Elektronische Dokumentation der Behandlung vor dem Hintergrund der aktuellen BGH-Rechtsprechung

Elektronische Dokumentation der Behandlung vor dem Hintergrund der aktuellen BGH-Rechtsprechung

Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27.04.2021, VI ZR 84/19

Vorinstanzen:
OLG Oldenburg, Entscheidung vom 06.02.2019 – 5 U 29/18
LG Aurich, Entscheidung vom 19.01.2018 – 5 O 755/15

 

Empfehlungen:

Nach aktuellem Stand dürfte es keine praktisch gut umsetzbare Gestaltung für eine elektronische Dokumentation geben, welche zu einem vollen Beweiswert vor Gericht führt. Das ist aktuell ein Problem in Haftungsfällen, könnte sich aber auch auf Abrechnungsprüfungen u.a. ausweiten. Theoretisch wären Varianten mit (qualifizierten) elektronischen Signaturen denkbar, die aber in der Praxis kaum umsetzbar sein dürften.

Daraus folgt zum einen, dass gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Es müssen Vorgaben geschaffen werden, die im Grundsatz zur Anerkennung des vollen Beweiswertes führen und so ausgestaltet sind, dass in täglichen Praxisabläufen mit ihnen gearbeitet werden kann.

Zum anderen besteht bis zu solch einer Regelung Evaluierungsbedarf für die eigenen Systeme. Für diese muss leider regelhaft unterstellt werden, dass diese keinen vollen Beweiswert erbringen und auch das Scannen wichtiger Unterlagen keine pragmatische Lösung ist, jedenfalls wenn der Massenbetrieb betrachtet wird. Folglich sind – neben Ertüchtigung und Zertifizierung der Software – Maßnahmen unvermeidlich, die nach der Relevanz der jeweiligen Dokumentation für Haftung (und Abrechnung) differenzieren; „besonders beweiswichtige Unterlagen“ sollten zweckmäßig unmittelbar beweissicher elektronisch oder weiterhin im Papier-Original dokumentiert und archiviert werden.

Im Einzelnen:

A. Problematik

Wer seinen Gesundheitsbetrieb auf elektronische Dokumentation umstellt, insbesondere durch sog. ersetzendes Scannen, wobei Originaldokumente entsorgt werden, sollte Vorkehrungen treffen, um eine „fälschungssichere Dokumentation abzusichern“, die nachträgliche Änderungen erkennen lässt. Wer „irgendwie“ speichert, muss sich im Haftungsfall auf die freie Überzeugungsbildung und kritische Würdigung des jeweiligen Tatrichters verlassen.

Das soll nicht von der elektronischen Dokumentation abschrecken und auch nicht vom ersetzenden Scannen abraten, die Erforderlich- und Zweckmäßigkeit ist in vielen Einrichtungen und Praxen definitiv gegeben. Sie sollten gleichwohl die nachstehenden Hinweise beachten und dem Grunde nach gilt, je „haftungsrelevanter“ die jeweilige Dokumentation ist, desto eher sollten Originale nicht entsorgt werden, weil der Beweiswert des Originals aktuell mangels generell anwendbarer gesetzlicher Regelung zum ersetzenden Scannen von Patientenakten der Scan-Datei noch überlegen ist.

Bei der ausschließlich elektronische Dokumentation und beim sogenannten ersetzenden Scannen (dem Scannen von Originalen mit anschließender Vernichtung des Originals), sollte darauf geachtet werden, dass

  1. vom Hersteller des Datenverwaltungssystems/Praxisverwaltungssystems (nachstehend „PVS“) die konkrete Art des Scannens und Speicherns als „fälschungssicher“ bzw. „dokumentenecht“ bestätigt ist und das Scannen und Speichern dann auch nach Herstellervorgabe in dem ausgewiesenen fälschungssicheren Bereich erfolgt;
  2. vom Hersteller des PVS bestätigt wird, dass die elektronische Speicherung den Maßgaben von § 630f Abs. 1 BGB entspricht, und der Hersteller die vorhandenen Zertifizierungen mitteilt;
  3. möglichst vom Hersteller des PVS in Textform bestätigt wird, dass die vorgegebene Dokumentation den Anforderungen der BGH-Rechtsprechung BGH, Urteil vom 27.4.2021 – VI ZR 84/19 zur Fälschungssicherheit (Erkennbarkeit nachträglicher Änderungen) genügt.
  4. möglichst vom Hersteller des PVS bestätigt wird, dass der vom Hersteller integrierte Bereich/Modus zum ersetzenden Scannen den Maßgaben der Richtlinie des Bundesamtes für Informationstechnik – BSI Richtlinie BSI-TR-03138 (BSI-TR-RESISCAN – s. hier) – entspricht

Diese Abstimmung mit dem PVS-Hersteller ist jedenfalls zweckmäßig, nicht nur wegen vorstehender Bestätigungen, sondern auch zur richtigen Umsetzung, was in der Praxis nicht unterschätzt werden sollte. Im Haftungsfall zählt nicht, was die Software grundsätzlich könnte. Zudem wird dadurch auch klar, was die Software nicht kann, und das ist meistens (erschrecken) viel.

Denn erfolgt die Dokumentation unmittelbar elektronisch, sollte die Software und der Dokumentationsmodus den Vorgaben der eIDAS Verordnung, des Vertrauensdienstegesetzes (VDG) und der Technischen Richtlinie 03125 des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik  (s. hier) genügen. Dies gilt insbesondere für den Einsatz  (qualifizierter) elektronischer Signaturen und (qualifizierter) elektronischer Zeitstempel. Die Konformität sollte vom PVS-Hersteller bestätigt und durch Zertifizierungen (s. hier) nachgewiesen werden. Tatsächlich werden diese Voraussetzungen indes regelhaft nicht erfüllt, schon weil sie nur bedingt umsetzbar sind.

Die KBV benennt deswegen zwar von ihr zertifizierte Praxisverwaltungssysteme, diese Zertifizierung bescheinigt aber – zumindest aktuell – die Fälschungssicherheit der elektronischen Dokumentation innerhalb der jeweiligen Software nicht. Dementsprechend sind Praxen je nach eigenem Risikoprofil zur Abschichtung gezwungen. Hier können Haftungsfälle relevant werden, wie die nachfolgende Entscheidung zeigt, man muss die Anforderungen des BGH aber auch vorsorglich für Abrechnungsfragen mit im Auge haben.

B. Zur BGH-Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof hat durch sein Urteil vom 27.04.2021 das Haftungsrisiko beim Einsatz sogenannter „nicht fälschungssicherer“ elektronischer Dokumentation konkretisiert. Nach der Einführung der §§ 630a ff. BGB, namentlich der § 630f Abs. 1 Sätze 2 und 3 BGB, kommt der in der Praxis teilweise verwendeten elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht kenntlich macht, keine positive Indizwirkung zu. Die in der Literatur mitunter vertretene Beweislastumkehr beim Einsatz nicht fälschungssicherer Dokumentation gemäß § 630h Abs. 3 BGB, nach der eine Vermutung für die Nichtvornahme der „nicht richtig“ dokumentierten Maßnahmen spreche, hat der BGH aber zutreffend abgelehnt.

Im Ergebnis bilde eine nicht fälschungssichere elektronische Dokumentation lediglich einen tatsächlichen Umstand, den der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit einer kritischen Würdigung zu unterziehen habe.

Der Bundesgerichtshof hat bislang offengelassen, wie eine solche Fälschungssicherheit sichergestellt werden kann. „Klar“ ist nur, dass die verwendete Software jede nachträgliche Änderungen kenntlich machen und dies auch beweisbar sein muss.

I. Einschlägige, wesentliche Gesetze (Hervorhebung durch Autor)

§ 630f Dokumentation der Behandlung

(1)       Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.

(2)       Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen.

§ 630h Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler

(3)       Hat der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme und ihr Ergebnis entgegen § 630f Absatz 1 oder Absatz 2 nicht in der Patientenakte aufgezeichnet oder hat er die Patientenakte entgegen § 630f Absatz 3 nicht aufbewahrt, wird vermutet, dass er diese Maßnahme nicht getroffen hat.

II. Zum Sachverhalt und dem Ausgangsverfahren

Bei dem Kläger traten im November 2013 plötzlich schwarze Flecken im linken Auge auf, woraufhin er sich einen Kontrolltermin in der Augenarztpraxis der Beklagten (Fachärztin für Augenheilkunde) geben ließ. Nach der augenärztlichen Untersuchung erklärte die Beklagte, dass es sich bei den Beschwerden um eine altersbedingte Erscheinung infolge einer Glaskörpertrübung handle und er sich daher keine Sorgen machen brauche. Ein Wiedervorstellungstermin wurde nicht vereinbart. Einige Zeit später stellte ein Optiker einen Netzhautriss fest, weshalb sich der Kläger erneut vorstellte. Diese diagnostizierte eine Netzhautablösung und verwies den Kläger unverzüglich ins Krankenhaus. In der Folge unterzog sich der Kläger einer Operation, bei der allerdings Komplikationen auftraten. Der Kläger erblindete auf dem linken Auge. Im erstinstanzlichen Verfahren beanstandete der Kläger insbesondere, dass die Beklagte es vor der Untersuchung versäumt habe, eine Pupillenweitstellung zu veranlassen, weswegen eine ordnungsgemäße Untersuchung des Augenhintergrunds nicht möglich gewesen sei. Infolgedessen hätte die Beklagte bei der Untersuchung den Netzhautriss übersehen. Die Klage hatte keinen Erfolg.

III. Berufungsinstanz

Auch das Berufungsgericht verneinte einen Schadensersatzanspruch, da Behandlungsfehler der Beklagten nicht festgestellt werden könnten. In der Dokumentation der Beklagten fände sich der Eintrag „Pup. In medikam. Mydriasis“ (medikamentöse Pupillenerweiterung); ihr ließe sich entnehmen, dass die Beklagte die vorderen Augenabschnitte und den Augenhintergrund beidseitig nach einer Weitstellung der Pupillen untersucht habe. Der Umstand, dass die Beklagte zur Erstellung ihrer EDV-gestützten Dokumentation keine fälschungssichere Software verwendet habe, führe nicht dazu, dass der Dokumentation im Rahmen der Beweiswürdigkeit keine Bedeutung zukomme. Die Verwendung einer nicht fälschungssicheren Software führe nicht zur Beweislastumkehr nach § 630h Abs. 3 BGB und habe auch nicht die Folge, dass der Dokumentation keine Indizwirkung zukomme. Im Streitfall seien greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der entsprechende Eintrag erst nachträglich erfolgt sein könnte, nicht ersichtlich.

IV. BGH-Entscheidung

Der BGH verwies die Sache im Hinblick auf den Vorwurf eines Befunderhebungsfehlers wegen der klägerseitig bestrittenen Untersuchung unter Pupillenweitung an das Berufungsgericht zurück. Angesichts der konkreten Behandlungssituation sei es dringend geboten gewesen, eine Untersuchung des Augenhintergrunds unter Pupillenerweiterung vorzunehmen. Der Kläger sei im Hinblick auf das vermeintliche Unterbleiben der medizinisch gebotenen Untersuchung und eines daraus folgenden Behandlungsfehlers beweisbelastet.

Rechtsfehlerhaft habe das Berufungsgericht jedoch der mit einer – nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden – Software erstellten Dokumentation der Beklagten eine positive Indizwirkung im Rahmen der Beweiswürdigung beigemessen.

Zu den Beweisregeln vor und nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes führt der BGH aus:

Bis zum Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes sei einer elektronisch erstellten Dokumentation in der Rechtsprechung grundsätzlich auch dann, wenn sie nachträgliche Änderungen nicht sichtbar machte, der volle Beweiswert eingeräumt worden, sofern die Dokumentation medizinisch plausibel war und der Arzt nachvollziehbar darlegte, keine Änderungen vorgenommen zu haben.

Nach Einführung der §§ 630a ff. BGB sei diese Auffassung nicht mehr haltbar. Eine elektronische Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar mache, genüge den gesetzlichen Anforderungen des § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB nicht.

Dort heiße es: „Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.“

Damit solle eine fälschungssichere Organisation der Dokumentation sichergestellt werden, was bei einer Software, die nachträgliche Änderungen nicht kenntlich mache, gegeben sei.

Allerdings führe die Verwendung einer solchen Software nicht dazu, dass eine Beweislastumkehr nach § 630h Abs. 3 BGB eintrete. Die Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB greife nur dann ein, wenn der Behandelnde eine Maßnahme und ihr Ergebnis nicht in der Patientenakte vermerke.

Den Fall, dass die medizinische Maßnahme zwar elektronisch dokumentiert, die Dokumentation aber mit einer nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden Software erstellt wurde, regle die Bestimmung dagegen nicht.

Eine positive Indizwirkung, die das Berufungsgericht der elektronischen Dokumentation zugunsten der Beklagten beigemessen habe, könne der Dokumentation aufgrund der nicht fälschungssicheren Software aber nicht zugesprochen werden. Eine tatsächlich erfolgte Untersuchung des Augenhintergrunds unter Weitstellung der Pupillen könne somit nicht auf die Indizwirkung der digitalen Dokumentation gestützt werden. Dies folge vor allem daraus, dass eine solche Dokumentation jedem Zugriffsberechtigten die Möglichkeit biete, den bisher aufgezeichneten Inhalt in kurzer Zeit, mit geringem Aufwand und fast ohne Entdeckungsrisiko nachträglich zu ändern und der Dokumentation insofern die für die Indizwirkung erforderliche Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit nehme. Dies gelte auch dann, wenn der Patient keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorlegen kann, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten geändert worden ist. Dies sei ihm regelmäßig auch gar nicht möglich.

Das Fehlen der positiven Indizwirkung bedeute jedoch nicht, dass die elektronische Dokumentation mittels einer nicht fälschungssicheren Software bei der Beweisführung vollständig unberücksichtigt bleibe. Vielmehr könne sie vom Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung im jeweiligen Einzelfall gewürdigt werden.

Der Ansatz des BGH ist auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen nachvollziehbar. Allerdings sollten die Anforderungen in der gerichtlichen Praxis nicht überspannt werden, da – zugespitzt formuliert – auch Papier geduldig ist. Papierdokumentationen mussten bisher nicht das Niveau eines fälschungssicheren Geldscheins erreichen. Ggfs. genügt also auch eine Manipulationsfreiheit nach Maßgaben üblicher Praxisabläufe, die das Niveau klassischer Papierdokumentation erreicht und gleichwohl ein praktisches Handling im Einklang mit den Anforderungen der Realität im Praxis- bzw. Krankenhausbetrieb erlaubt.

 

Dr. Felix Reimer, LL.M. (Medizinrecht)
Fachanwalt für Medizinrecht
Lehrbeauftragter der FOM München