Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Einsichtsrecht der Krankenkasse in die Patientenakte im Sozialgerichtsprozess

Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Einsichtsrecht der Krankenkasse in die Patientenakte im Sozialgerichtsprozess

BSG Urteil vom 19.12.2017, Az.: B 1 KR 40/17 R

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 18.12.2018 zur Reichweite des Einsichtsrechts der Krankenkasse in die Patientenakte und den Folgen der diesbezüglichen Verweigerung im Sozialgerichtsprozess entschieden.

 

Zusammenfassung

Der Anspruch der Kassen auf rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren beinhaltet auch die Einsicht in die Patientenakte, wenn das Gericht diese in den Prozess eingeführt hat und seine Entscheidung darauf stützen will. Dieses Recht wird weder durch die Vorgaben des Datenschutzes noch durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherten eingeschränkt.

 

Sachverhalt und Entscheidung

Das beklagte Krankenhaus behandelte 2008 den bei der klagenden Krankenkasse Versicherten und berechnete hierfür DRG A11B und kodierte eine Beatmungszeit von über 249 und unter 500 Stunden. Der Medizinische Dienst sah lediglich eine Beatmungszeit von weniger als 249 Stunden als nachgewiesen an, woraufhin die Krankenkasse den daraus entstehenden Differenzbetrag erfolglos zurückforderte. In dem darauffolgenden Klageverfahren hat das Krankenhaus die vollständigen Behandlungsunterlagen zur Verfügung gestellt, die Klägerin jedoch von der Einsichtnahme ausgeschlossen. Das Sozialgericht hat die Behandlungsunterlagen nicht der Klägerin, aber dem gerichtlichen Sachverständigen zur Verfügung gestellt und gestützt auf dessen Gutachten die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die von der Klägerin erneut geforderte Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen verweigert und deren Berufung gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen zurückgewiesen.

Das BSG hat auf die Revision der klagenden Krankenkasse die Sache zurückverwiesen. Begründend führt das BSG aus, dass das LSG hat den Anspruch der Krankenkasse auf rechtliches Gehör verletzt, indem es ihr Einsicht in die Behandlungsunterlagen des Versicherten verweigert hat. Dabei darf ein Urteil nur solche auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Regelung konkretisiert den grundrechtlich verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör. Denn dieses Recht umfasst die Möglichkeit der Prozessbeteiligten, in die Unterlagen Einsicht zu nehmen, die das Gericht in den Prozess eingeführt hat und auf die es sich stützen will. Dem stehen weder das Datenschutzrecht, noch das Grundrecht auf informationelle Selbststimmung entgegen.

 

Einordnung und Handlungsempfehlung

Das BSG hat für diesen Fall aus dem Jahr 2008 das umfassende Einsichtsrecht der Krankenkasse in die Patientenakte festgestellt, wenn diese in den Prozess eingeführt wird und das Gericht sein Urteil auf die Angaben aus der Patientenakte stützt. Mit dieser jüngsten Entscheidung zu diesem Problemkreis setzt der 1. Senat seine Rechtsprechung des Urteils vom 19.12.2017 (B 1 KR 19/17 R) konsequent fort. Auch in diesem Verfahren zu einem Behandlungsfall aus dem Jahr 2009 hatten SG und LSG die Patientenakte zwar dem gerichtlich bestellten Sachverständigen und dem MDK, nicht aber der Krankenkasse zur Verfügung gestellt, weil das Krankenhaus dies untersagt hatte. Unter diesen Umständen muss ein Beweislasturteil zu Lasten des Krankenhauses gehen, da es sich weigert, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, so das BSG.

In beiden benannten Entscheidungen hat das BSG aber auch die Grenze des prozessualen Einsichtsrechts im Spannungsfeld zwischen informationeller Selbstbestimmung des Versicherten und dem Recht auf rechtliches Gehör der Krankenkassen gezogen. Diese ist erreicht, wenn Sozialdaten keinen Bezug zum Vergütungsstreit haben (Rdnr 27). Um so wichtiger ist es also im Rahmen der Erlössicherung – sowohl vorprozessual und nach der Erhebung einer Klage ohnehin – darzustellen, ob tatsächlich ein medizinischer Umstand streitentscheidend ist, oder möglicherweise ein rechtlicher Aspekt. Im zweiten Fall ist die Vorlage der gesamten Patientenakte nicht immer erforderlich. Wird sie aber – wenn auch unnötigerweise – in den Prozess eingeführt, besteht das Recht der Krankenkasse auf Einsichtnahme. Dies kann und sollte durch gezielte und detaillierte Beschreibung der streitentscheidenden Aspekte vermieden werden.

Diese vom BSG zu Fällen aus den Jahren 2008 und 2009 entwickelten Grundsätze gelten unberührt von der bislang nicht abschließend geklärten Frage, ob Fristversäumnisse der Krankenkasse nach den Vorgaben der PrüfvV 2017 die spätere gerichtliche Aufklärung ausschließen oder nicht. Wird die Patientenakte – egal ob für die Streitentscheidung erforderlich oder nicht – in den Prozess eingeführt wird, hat auch die Krankenkasse das Recht zur Einsicht. Es gilt der alte beweisrechtliche Grundsatz, dass auch die Früchte des verbotenen Baumes verzehrt werden dürfen, wenn sie denn greifbar sind. Um so wichtiger ist die bereits erwähnte detaillierte Bewertung im Vorhinein, ob die Übermittlung der Patientenakte an das Gericht überhaupt erforderlich ist.

Schließlich ist aber zu beachten, dass die dargestellten Grundsätze allein für die prozessuale Situation in einem anhängigen Gerichtsverfahren gelten. Für das außergerichtliche Prüfverfahren im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinandersetzung gelten weiterhin die abgestuften Datenübermittlungspflichten nach § 301 SGB V und der Prüfverfahrensvereinbarung. In dieser Situation dürfen wie gehabt also zunächst nur die Daten nach § 301 SGB V und ggf. ein Kurzbericht übermittelt werden. Alle weiteren Patientenunterlagen darf dann nur der MDK nach seiner ordnungsgemäßen Beauftragung anfordern. Die Krankenkassen erhalten lediglich das auf den Patientenunterlagen basierende MDK-Gutachten.

 

 

Julia Zink, LL.M.                                                                    André Bohmeier
Rechtsanwältin                                                                      Rechtsanwalt