Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 30.07.2019 krankenhausrelevante Entscheidungen getroffen. Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor. Grundlage der folgenden Ausführungen sind die Terminsberichte und die Entscheidungsgründe der Vorinstanzen, soweit diese zugänglich sind.

Gegenständlich waren die folgenden Verfahren:

1. B 1 KR 31/18 R – Wirksamkeit der Aufrechnung per Sammelavis nach § 9 Satz 2 PrüfvV
2. B 1 KR 13/18 R – Beatmung eines Neugeborenen mit einem Gewicht unter 1.500 Gramm mittels HFNC gilt nicht als künstliche Beatmung i. S. d. DKR 1001h (2009)
3. B 1 KR 11/19 R – Beatmung eines Neugeborenen mittels HFNC ist keine maschinelle Beatmung i. S. d. DKR 1001l (2017)

1. B 1 KR 31/18 R – Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Aufrechnungserklärung

Zusammenfassung

Ein Sammelavis erfüllt die Voraussetzungen einer wirksamen Aufrechnungserklärung nach § 9 Satz 2 PrüfvV a. F. 2015. Es bleibt damit bei erleichterten Voraussetzungen für die Krankenkassen. Den Bestimmtheitsanforderungen, welche die Instanzgerichte noch aufgestellt hatten, ist das BSG nicht gefolgt.

Sachverhalt und Entscheidung

Kern des Rechtsstreits war die Frage, ob ein Sammelavis den Voraussetzungen einer wirksamen Aufrechnungserklärung im Sinne des § 9 Satz 2 PrüfvV a. F. 2015 entspricht. Die Vorschrift lautet:

Dabei sind der Leistungsanspruch und der Erstattungsanspruch genau zu benennen.

Die beklagte Krankenkasse verrechnete einen streitigen Vergütungsanteil in einem Behandlungsfall. Dies teilte sie dem klagenden Krankenhaus schriftlich mit. Dabei verwies die Krankenkasse auf eine beigefügte fünfseitige Aufstellung mit Rechnungsdaten, Rechnungsnummern und Fallnummern sowie Geldbeträge, die mehr als 60 Behandlungsfälle von Versicherten der Krankenkasse betreffen. Einige dieser Geldbeträge weisen ein Minuszeichen aus, andere sind Positivbeträge. In dieser Aufstellung verbuchte die Beklagte den von ihr an die Klägerin ursprünglich bereits gezahlten Betrag als Minusbetrag, den von ihr für zutreffend gehaltenen Rechnungsbetrag als Positivbetrag, womit die Vergütung um den Differenzbetrag gemindert worden ist.

Das Sozialgericht und das Landessozialgericht haben den Anspruch des klagenden Krankenhauses für die Krankenhausvergütung anerkannt. Es war dabei der Auffassung, dass die Aufrechnungserklärung nicht den Anforderungen des § 9 S. 2 PrüfvV (a. F. 2015) genüge. So sei aus dem Sammelavis nicht ansatzweise erkennbar, gegen welche Leistungsansprüche aufgerechnet werden soll. Entsprechend sei der Leistungsanspruch, auf den sich die Aufrechnung beziehen soll, überhaupt nicht bezeichnet. Eine „genaue Bezeichnung des Leistungsanspruchs“ im Sinne einer eindeutigen Individualisierung, die § 9 Satz 2 PrüfvV 2015 verlangt, ist damit nicht gegeben. Auch schließe die Prüfverfahrensvereinbarung die Anwendung der Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB zur Tilgungsreihenfolge aus. § 9 S. 2 PrüfvV a. F. 2015 ist hier die bevorzugte Regelung und verdrängt daher den § 366 BGB, so das LSG. Damit war die Aufrechnung der Kasse nach Ansicht des LSG unwirksam.

Die dagegen erhobene Revision der Krankenkasse war erfolgreich. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanzen ist das BSG der Meinung, dass das Sammelavis den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 einer wirksamen Aufrechnungserklärung entspricht, da sämtliche Vergütungsansprüche des Krankenhauses mit Entlassdatum, Fall- und Rechnungsnummer sowie dem konkreten Zahlbetrag bezeichnet werden. Gegen welche der dort aufgeführten Forderungen die Krankenkasse mit ihrem Erstattungsanspruch aufrechnete, folge aus der Regelung des § 366 Abs. 2 BGB zur Tilgungsreihenfolge. Diese sei auch nicht durch § 9 Abs. 2 PrüfvV a. F. 2015 verdrängt. Dies folge aus Wortlaut, Regelungszweck und Regelungssystem. Die Vertragspartner forderten gerade nicht mit den Worten des BGB, die Forderungen und damit die Tilgungsreihenfolge zu „bestimmen“. Sie wollten nicht den Krankenkassen die Verpflichtung, aber auch das Recht einräumen, die Forderungen, gegen die aufgerechnet werden soll, einseitig und endgültig zu bestimmen. Dies widerspräche auch dem Zweck der PrüfvV, ein effizientes, konsensorientiertes Verfahren zu regeln, so das BSG.

Einordnung

Das Ergebnis der Entscheidung überrascht nicht; vielmehr setzt der 1. Senat seine Rechtsprechung aus der Entscheidung B 1 KR 7/16 R vom 25.10.2016 zu Fällen vor dem Inkrafttreten der Prüfverfahrensvereinbarung konsequent fort. Bereits mit dieser Entscheidung hat das BSG festgestellt, dass bei einer fehlenden Leistungsbestimmung, wie im Falle eines Sammelavis, die Tilgungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB gilt.

Mit der hier gegenständlichen jüngsten Entscheidung zu diesem Problemkreis hat das BSG nun auch klargestellt, dass die Regelung zur Tilgungsreihenfolge auch nach Inkrafttreten der Prüfverfahrensvereinbarung 2015 gilt. Dies dürfte aber auch für die wortlautgleichen § 10 Satz 2 der aktuellen Prüfverfahrensvereinbarung 2016 gelten. Denn auch nach dieser Regelung sind die Forderungen zu „benennen“ und nicht zu bestimmen.

2. B 1 KR 13/18 R – Beatmung eines Frühgeborenen mittels High-Flow-Nasenkanüle ist keine maschinelle Beatmung i. S. d. DKR 1001l (2009)

Zusammenfassung

Beatmung über die High-Flow-Nasenkanüle ist keine maschinelle Beatmung im Sinne der maßgeblichen Kodierregel DKR 1001h 2009. Die Entscheidung ist abzulehnen. Nun sind die Selbstverwaltungspartner gefordert, eine Möglichkeit zur sachgerechten Erfassung des Aufwandes zu vereinbaren.

Sachverhalt und Entscheidung

Streitgegenstand der Sache B 1 KR 13/18 R ist die Frage, ob die Atemunterstützung mittels einer High-Flow-Nasenkanüle (HFNC) bei der Ermittlung der Beatmungsdauer zu berücksichtigen ist. Der bei der Beklagten versicherte Patient hatte ein Geburtsgewicht von 1.335 Gramm und wurde als Frühchen vom 27.12.2009 bis zum 01.03.2010 u.a. auf der Neugeborenen-Intensivstation versorgt. Dafür wurde er ab seiner Geburt, zunächst kurzzeitig mittels eines Tubus im Rachen und anschließend rund 72 Stunden per Atemmaske beatmet. Er erhielt weitere 33 Stunden Atemluft mit Hilfe einer HFNC über eine an ein Beatmungsgerät angekoppelte Brille. Die Krankenkasse weigert sich diesen letzten HFNC-Beatmungszeitraum zu vergüten.

Das SG hat die Krankenkasse zur Zahlung verurteilt. Das bayerische LSG hat das SG bestätigt und mit seiner Entscheidung vom 13.08.2018 (L 5 KR 504/15) ausgeführt, dass unter Verweis auf die DKR 1001h (2009) für Neugeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm eine HFNC-Beatmung als maschinelle Beatmung zu kodieren und abzurechnen sei. Demnach seien alle Zeiten als Beatmungsstunden oder zumindest als Entwöhnung zu zählen und aus diesem Grund zur Beatmungsdauer hinzuzurechnen.

Das Bundessozialgericht hat die Entscheidung des LSG aufgehoben. HFNC sei keine maschinelle Beatmung im Sinne der maßgeblichen Kodierregel DKR 1001h. Diese setze voraus, dass der Patient intubiert oder tracheotomiert oder bei intensivmedizinischer Versorgung die Beatmung über ein Maskensystem erfolgt, wenn dieses an Stelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt wird. Die Therapie mit HFNC erfülle keine dieser Voraussetzungen. Die Beatmung mittels HFNC wird auch nicht dadurch einer maschinellen Beatmung gleichgestellt, dass nach der Kodierregel „zusätzlich ein Kode aus 8-711 (…) anzugeben“ ist, wenn bei Neugeborenen und Säuglingen eine maschinelle Beatmung erfolgt. Es handelt sich auch nicht um eine Entwöhnung. Dabei hat das LSG nicht festgestellt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen einer Entwöhnung nach – also eine Gewöhnung nach BSG Urteil vom 19. Dezember 2017, Az. B 1 KR 18/17 R – erfüllt waren.

Einordnung

Die Entscheidung ist nicht nachvollziehbar und verletzt (erneut) die Maßgaben der Wortlautauslegung. Die maßgebliche DKR 1001I definiert künstliche Beatmung bekanntlich wie folgt:

Maschinelle Beatmung („künstliche Beatmung”) ist ein Vorgang, bei dem Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt werden. Die Atmung wird unterstützt durch das Verstärken oder Ersetzen der eigenen Atemleistung des Patienten.

Bei Anwendung der HFNC werden Gase mittels mechanischer Vorrichtung in die Lunge bewegt und so die Atmung verstärkt. Dies geschieht bei Frühgeborenen zwar nur in einem sehr geringen Ausmaß; im Verhältnis zum Lungenvolumen ist die Dimension jedoch alles andere als gering. Nach der Darstellung in dem hier zugrunde liegenden Terminsbericht scheint der 1. Senat aber die Beatmung über Tubus oder Tracheostoma zwingend vorauszusetzen:

„Diese setzt voraus, dass der Patient intubiert oder tracheotomiert oder bei intensivmedizinischer Versorgung die Beatmung über ein Maskensystem erfolgt, wenn dieses an Stelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt wird.“

Dazu heißt es in der DKR 1001I:

Bei der künstlichen Beatmung ist der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und wird fortlaufend beatmet. (Hervorhebung durch die Autoren).

Normtechnisch handelt es sich bei diesem Satz um ein so genanntes Regelbeispiel zur zuvor dargestellten Definition zur künstlichen Beatmung. Ein Regelbeispiel konkretisiert die Definition, beschränkt Sie aber nicht. Es ist im Sinne des Wortes nur ein Beispiel. Das bedeutet, dass Tubus und Tracheostoma lediglich Beispiele für künstliche Beatmung darstellen. Eine solche liegt gleichwohl aber immer auch dann vor, wenn Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt werden, dabei jedoch andere Beatmungsformen als Tubus oder Tracheostoma zum Einsatz kommen.

Bei der HFNC werden Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt. Es bleibt daher mit den noch nicht veröffentlichten Entscheidungsgründen abzuwarten, mit welcher Behauptung das BSG seine Auffassung begründen wird dass, es sich trotzdem nicht um künstliche Beatmung handelt.

Das gleiche gilt für den Aspekt der Entwöhnung. Die Ernsthaftigkeit des Themas verbietet jede Polemik; wobei man sich schon fragen muss, wie bei einem Neugeborenen überhaupt eine „Gewöhnung“ stattfinden soll, wenn es zuvor noch nie die Luft dieser Welt geatmet hat. Auch hier werden die Entscheidungsgründe zeigen, welche Kreativität der 1. Senat entfalten wird.

Im Ergebnis wird die Beatmungsform weiter zum Einsatz kommen, um die notwendige Versorgung Früh- und Neugeborener zu gewährleisten. Allein die dafür anfallende Vergütung steht dann in keinem Verhältnis mehr zum Aufwand. Zweifel, ob die unter diesen Umständen anfallende Vergütungshöhe überhaupt noch eine Leistung angemessen abdeckt, die dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht, dürfen sich ausbreiten.

3. B 1 KR 11/19 R – Beatmung eines mittels HFNC ist keine maschinelle Beatmung i. S. d. DKR 1001l (2017)

Zusammenfassung

HFNC ist keine maschinelle Beatmung im Sinne der maßgeblichen Kodierregel DKR 1001h 2017

Sachverhalt und Entscheidung

Das klagende Krankenhaus behandelte die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, vier Monate zuvor geborene Patientin, wegen akuter Bronchiolitis zeitweise auf der Kinder-Intensivstation. Die Versicherte wurde unter anderem mit Hilfe einer High-Flow-Nasenkanüle über Brille beatmet. Die Klägerin kodierte unter anderem 66 Beatmungsstunden und berechnete die Fallpauschale E40C. Dagegen wandte die Krankenkasse ein, dass die Beatmungsstunden bei der Atemunterstützung durch HFNC nicht zu berechnen seien und daher nur die Fallpauschale E70A zu berechnen sei.

Das SG hat die Klage des Krankenhauses abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Beatmung eines Neugeborenen oder Säuglings mit HFNC stelle keine maschinelle Beatmung im Sinne der Kodierregel 1001h der DKR für das Jahr 2017 dar. Zwar sei danach bei Neugeborenen und Säuglingen die Dauer der Atemunterstützung mit kontinuierlichem positivem Atemwegsdruck (CPAP) bei der Ermittlung der Beatmungsdauer einzubeziehen. Eine mögliche (technische) Vergleichbarkeit der HFNC-Therapie mit der Anwendung von CPAP rechtfertige jedoch keine analoge Anwendung dieser Bestimmung, so das LSG.

Das BSG hat die Revision des Krankenhauses zurückgewiesen. Die Behandlung mittels High-Flow-Nasenkanüle sei weder eine maschinelle Beatmung im Sinne der maßgeblichen Kodierregel (DKR 1001l Version 2017), noch sei sie durch die DKR einer solchen maschinellen Beatmung gleichgestellt. Soweit die Kodierregeln eine Atemunterstützung mit kontinuierlichem positivem Atemwegsdruck (CPAP) bei der Beatmungszeit von Neugeborenen und Säuglingen berücksichtigen, beschränke sie sich auf Kodes, die eine Atemunterstützung durch Anwendung von High-Flow-Nasenkanülen nicht einbeziehen. Die Versicherte sei auch nicht von einem Beatmungsgerät entwöhnt, da überhaupt keine maschinelle Beatmung im Sinne der Kodierregeln erfolgte, so das BSG.

Einordnung

Mit dieser zweiten Entscheidung zum Problemkreis HFNC hat das BSG klargestellt, dass auch unter der Geltung der DKR 2017 und bei der Behandlung eines Kindes im Alter von 4 Monaten die Beatmung mittels HFNC keine maschinelle Beatmung im Sinne der DKR 1001I darstellt.

 

André Bohmeier Julia Zink, LL.M. Corinna Schmidtmann
Rechtsanwalt Rechtsanwältin Rechtsanwältin