Leben abhängig von einem Münzwurf? BSG, Urt. v. 24.01.2023, B 1 KR 7/22 R, Cytotect

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Leben abhängig von einem Münzwurf? BSG, Urt. v. 24.01.2023, B 1 KR 7/22 R, Cytotect

Am 24.01.2023 hat das Bundessozialgericht eine Entscheidung getroffen, die zu denken gibt und die Überzeugungskraft verliert, je mehr man über sie nachdenkt. Die Aussage des Urteils betrifft Innovationen, die noch nicht Gegenstand des GKV-Leistungskataloges sind, aber Leben retten und schweres Leid verhüten können. Auf solche Innovationen besteht ein Anspruch, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht, § 2 Abs. 1a SGB V. Mit diesem Grundsatz tut sich das Bundessozialgericht mitunter schwer, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Grundlage dieses Grundsatzes unter Aufhebung einer Entscheidung des Bundessozialgerichtes durch den sog. Nikolaus-Beschluss etabliert hatte (s. hier). Nun hat das Bundessozialgericht entschieden, dass Innovationen nur noch für Erkrankungen zur Verfügung stehen sollen, an denen statistisch betrachtet, wird nicht behandelt, mindestens 51 von 100 Menschen sterben oder schwere Beeinträchtigungen in gleicher Wahrscheinlichkeit erleiden. Die Chancen müssen schlechter stehen, als wäre das Leben von einem Münzwurf abhängig.

Entscheidungskonflikt gleich einem Russisch Roulette

Schon dieser allgemeine Grundsatz des BSG lässt sich mit den Grundrechten nach dem Grundgesetz nicht vereinbaren. Noch unverständlicher ist, dass das BSG den Grundsatz in einem Fall entwickelt hat, der die Verantwortung einer werdenden Mutter für das in ihr aufkeimende Leben betraf. In dem Fall bestand aufgrund einer gewöhnlichen Virusinfektion der Mutter im Fall einer Übertragung der Infektion auf den Fötus das Risiko eines Abortes oder einer lebenslangen Behinderung von mehr als 50%. Unter Berücksichtigung des Risikos der Übertragung von der Mutter auf den Fötus, das bei etwa 1/3 liegt, belief sich das kumulierte Risiko bei ca. 1:6, d. h. ein von sechs Kindern sterben oder schwere Behinderungen davontragen. Das ist die Wahrscheinlichkeit von Russisch Roulette.

Die Übertragung des Virus konnte aber – nach heutigen Erkenntnissen – mit einer Chance von über 90% durch ein Medikament unterbunden werden, das zugleich keine relevanten Nebenwirkungsrisiken mit sich bringt. Eltern hatten damit die Option, das Medikament zu nutzen, es auf das Russisch Roulette für ihr Kind und sich ankommen zu lassen oder, was auch vorkommt, sich schweren Herzens für eine Abtreibung zu entscheiden. Die Nutzung des Medikamentes steht allerdings nur Familien offen, die – gemessen am bundesdeutschen Durchschnittsnettoeinkommen von rund 2.250 Euro (s. hier) – das Vier- bis Fünffache dieses Monatseinkommens aufbieten können. So viel kostet nämlich die Behandlung. Wer dieses finanzielle Opfer nicht bringen kann, dem bleibt nur, den Nachwuchs und sich einem Glücksspiel auszusetzen oder die Schwangerschaft abzubrechen.

Divergenz zwischen den Sozialgerichten

Familien nicht in diesen Konflikt zu stürzen, sahen Sozialgerichte landauf und landab als nicht mit der Verfassung vereinbar an und verpflichteten Gesetzliche Krankenversicherung, die Kosten für die Beschaffung des Arzneimittels gemäß § 2 Abs. 1a i.V.m. 13 Abs. 3 SGB V zu übernehmen (der überwiegende Teil der Entscheidungen ist nicht veröffentlicht – veröffentlichte Entscheidungen s. u. a. hier). Erst das Landessozialgericht München (Urt. v. 25.11.2021, L 4 KR 318/18, s. hier) und nun das Bundessozialgericht waren der Meinung, dass das Russisch Roulette eine hinreichende Chance biete und versagten den Anspruch. Diese Entscheidung trifft dem ersten Eindruck nach vor allem begüterte Familien, welche die Vorfinanzierung, die Voraussetzung des § 13 Abs. 3 SGB V ist, überhaupt stemmen konnten. Das wirkt sich aber auch auf sozial schwächere Mütter aus, da die Entscheidung damit auch einer rechtzeitigen Gewährung im einfachen Antragswege ohne Streit entgegensteht. Das verschärft die soziale Spaltung, die vom Bundessozialgericht in seiner Wirkung nicht reflektiert, geschweige denn gerechtfertigt worden ist.

Verfassungsbeschwerde

Die Hoffnungen liegen nun beim Bundesverfassungsgericht, das über die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil zu entscheiden hat. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, erfolgt aus Karlsruhe eine Entscheidung zur Sache, hat Folgen nicht nur für diejenigen Mütter, die unglücklicherweise an dem Virus erkranken. Die Folgen treffen auch viele andere Fälle im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1a SGB V. Denn bisher war keine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% gefordert worden und so wie das Bundessozialgericht argumentiert, ist nicht auszuschließen, dass es zukünftig sicher sein muss, dass die Schwelle von 50% nachweislich überschritten sein muss. Würde sich solch eine Auslegung etablieren können, droht der § 2 Abs. 1a SGB V eliminiert zu werden in seiner Relevanz, die darin liegt, das Sozialstaats- und Verhältnismäßigkeitsprinzip auch im Bereich innovativer Behandlungen im Fall existenzieller Bedrohungen zu realisieren. Das ist notwendig, um Defizite und Härten der Zulassungsschwellen im GKV-Recht auszugleichen und deren vielfältigen dysfunktionalen Bestandteile überhaupt rechtfertigen zu können. Realisiert wird diese Zielsetzung, in dem Zulassungsschranken reduziert werden, aber eben nur für existentielle Lagen und nicht jeden beliebigen Erkrankungszustand. Das ist unbeschadet von Schwierigkeiten infolge starrer Interpretation der Begrifflichkeiten des § 2 Abs. 1a SGB V ausgewogen und wahrt Konsistenz. Diese Ausgewogenheit und Konsistenz haben das Bundessozialgericht aufgehoben, indem es den Kreis als existentiell anzuerkennender Bedrohungslagen unbegründet eingeschränkt hat. Das Bundesverfassungsgericht sollte dem entgegentreten und die Realisierung von Verhältnismäßigkeit und sozialer Teilhabe wieder herstellen. Dazu bietet der Fall jeden Anlass.

Details

I. Cytotect und CMV-Virus

Gegenstand der Entscheidung ist ein Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für das Arzneimittel Cytotect nach § 13 Abs. 3 i.V.m. § 2 Abs. 1a SGB V. Das Arzneimittel, das nicht mit dem Mittel zur Geburtseinleitung, Cytotec (ohne t am Ende), zu verwechseln ist, gehört zu der Familie der Immunglobuline (menschlicher Antikörper). Es dient in seinem Anwendungsbereich dazu, Immungeschwächte namentlich Organtransplantierte während der Immunsuppression vor der Ansteckung mit dem Cytomegalie-Virus (CMV-Virus) zu bewahren (vgl. Fachinformation), da dieser Virus aus der Familie der Herpes-Erreger zu den viralen und gefährlichen Erkrankungen nach Organtransplantationen gehört (s. hier und hier). Aufgrund dieser vorbeugenden Funktion kommt das Arzneimittel auch für Mütter zum Einsatz, die sich in der Schwangerschaft mit dem CMV-Virus infizieren, was bei etwa 1 von 100 bis 1 von 200 Schwangerschaften der Fall ist. Springt dieses Virus von der Mutter auf den Fötus, sind die Folgen gravierend, insbesondere wenn die Ansteckung in dem ersten Schwangerschaftsdrittel erfolgt, was bei ca. einem Drittel der Schwangerschaften der Fall sein dürfte. Nach sachverständiger Einschätzung kommt es in über der Hälfte solch früher Ansteckungen zu schweren Beeinträchtigungen, darunter Hör- und Sehverlust und ausgreifenden Intelligenzminderungen wie es bei zumindest ca. 20% der Fälle zum Abort kommt (zum Überblick über die Folgen sowie dem Leben mit den Folgen des Virus s. z. B. aus medizinischer Sicht s. hier, hier und hier (ab S. 207 ff) und mit der Perspektive der Betroffenen s. hier, Austausch – Stark gegen CMV und hier). Die Kosten der Krankenbehandlung bei schwereren Fällen werden über die Lebenszeit hinweg unter Rückgriff auf Daten aus einer englischen Studie über eine Millionen Euro betragen. Weitere Kosten wie Einkommensminderungen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Die Kosten für die vorbeugende Behandlung mit Cytotect belaufen sich auf ca. 8.000 bis 12.000 Euro und nach einer jüngsten Studie dürfte die Erfolgsquote bei über 90% liegen.

II. Was wäre im Fall der Zulassung?

Wäre Cytotect für die Vermeidung von Ansteckungen im Mutterleib zugelassen, gäbe es den Streit nicht. Der Nutzen ist gegeben, nennenswerte Nebenwirkungen insbesondere zum Nachteil für den Fötus sind nicht bekannt und das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist, stellt man Inzidenz der Infektionen bei der Mutter, Risiken und vermiedene Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie Behandlungskosten einander gegenüber, überragend positiv. Auf der Grundlage des geltenden Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung wäre damit kein Ausschluss aus dem Versorgungskatalog denkbar. Die Vermeidung des Überspringens der Infektion von der Mutter auf das Kind erfüllt auch aus Sicht des Bundessozialgerichtes den gesetzlichen Begriff einer behandlungsbedürftigen Erkrankung. Auf eine irgendwie geartete Mindestwahrscheinlichkeit, dass Gesundheitsbeeinträchtigungen eintreten, kommt es nicht an. Das Bundessozialgericht lässt vielmehr namentlich dann, wenn – wie hier – die vorbeugende Behandlung die einzige Option ist, es ausreichen, dass das Erkrankungsrisiko nicht entfernt liegend ist (BSG, Urteil vom 23.2.1973, 3 RK 82/72, Rn. 27 = s. hier Seite 7). Nach diesem Urteil darf und muss sogar in solchen Fällen in solchen Fällen von einem verantwortungsbewusst handelnden Elternteil erwartet werden, „dass er ein gefährdetes Kind behandeln lässt, ist die Behandlung notwendig.“ Zugleich sieht das Bundessozialgericht es „auch im wohlverstandenen Interesse der Versichertengemeinschaft … so früh wie möglich zu bekämpfen, um schwere, möglicherweise nicht mehr behebbare Gesundheitsschäden hintanzuhalten“. Damit benennt das Bundessozialgericht zwei tragende Motive für die Gestaltung des Leistungskataloges, nämlich die individuelle, vorausschauende Verantwortlichkeit für die Gesundheit und das Interesse der Versichertengemeinschaft an solch einer vorausschauenden Versorgung.

Ausgeschlossen werden könnte das Arzneimittel aus dem Leistungskatalog ebenfalls nicht. Dies setzte gemäß § 92 Abs. 1 S. 1 letzter Halbsatz SGB V voraus, dass die Unzweckmäßigkeit erwiesen ist. Nach dem Vierten Kapitel § 12 der Verfahrensordnung des gemeinsamen Bundesausschuss bedingt die Unzweckmäßigkeit, dass überhaupt eine Behandlungsalternative besteht – was hier nicht der Fall ist – und auch im Fall einer Alternative, dass diese einen therapierelevant höheren Nutzen hat. Eine Mindestwahrscheinlichkeit oder ein Ausschluss für Risiken mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von weniger als 50 % findet sich hier nicht. Auch können Kosten bei fehlender Behandlungsalternative nicht zu einem Ausschluss führen. Es ist nur denkbar, dass die Erstattungshöhe bei einem nicht ausreichenden Kosten-Nutzen-Verhältnis begrenzt wird. Auch aus Sicht der GKV stehen hier aber gänzlich andere Höhen von Therapiekosten im Fokus (s. hier) als sie für Cytotect in Rede stehen.

Im Fall der Zulassung wäre der Einsatz also unproblematisch, der Einsatz würde an keine systeminhärente Grenze stoßen und individuellen wie kollektiven Nutzen in einer vorbildlichen Weise realisieren.

III. Off label use

Was ist also Anlass des so hartherzigen Urteils?

Anknüpfungspunkt des Streits ist der sogenannte Off label use des Arzneimittels. Unter einem Off label use versteht man dem zulassungsüberschreitenden Einsatz eines Arzneimittels. Das ist ein Einsatz, bei dem ein zugelassenes Arzneimittel jenseits der Indikation eingesetzt wird, für welches die Zulassung erreicht worden ist. In diesem Fällen leistet die Gesetzliche Krankenversicherung nach den allgemeinen Maßgaben vorbehaltlich der nachfolgenden Ausnahmen grundsätzlich nicht. Tragende Überlegung ist hierbei, dass die Qualität des Arzneimittels nicht gemäß nationalen oder europäischen Arzneimittelzulassungsrechtes gewährleistet ist. Dieser Überlegung liegt der Umstand zu Grunde, dass solche Zulassungen auf einem detailliert ausgestalteten Systems von Nachweisen insbesondere durch Studien fußt, welches sicherstellen soll, dass ein Mittel überhaupt einen Nutzen hat und der Nutzen größer als mögliche Schaden ist (siehe z. B. hier und hier).

1. Bedeutung der Zulassungsschranken im GKV-Recht

a) Grundsatz

Daraus wird für die gesetzliche Krankenversicherung der Grundsatz abgeleitet: Was nicht zugelassen ist, kann mangels Qualität kein Gegenstand des Leistungskataloges sein. Flankiert wird dieser Grundsatz mitunter mit dem Hinweis auf den Ursprung des Arzneimittelzulassungsrechtes. Der liegt unter anderem im Conterganskandal. Dieser historische Zusammenhang im Hinblick auf den Off label use ist indes irreführend. Beim Off label use handelt es sich nicht um den Einsatz ohne jegliche Zulassungen. Vielmehr handelt es sich um Arzneimittel, die bereits zugelassen sind, also für welche bereits gemäß des Zulassungsrechtes korrekt durchgeführte Studien vorliegen. Aus solchen Zulassungsverfahren müssen zwar nicht automatisch Erkenntnisse für einen Off label use folgen, können es aber. Darüber hinaus bleibt auch ein Off label use grundsätzlich an die allgemein Qualitätsmaßstäbe gebunden. Insbesondere muss der Patient darüber aufgeklärt werden und namentlich muss auf die Risiken infolge etwaiger unzureichender Studiensituation sowie etwaig fehlender Erkenntnisse und Nutzen aufgrund unzureichender Studien hingewiesen werden. Ein Off label use ist mithin nicht automatisch ein Behandlungsfehler (s. z. B. hier). Vielmehr gibt es häufig gute Gründe für einen Off label use und mitunter kann es sogar ein Kunstfehler sein, nicht zumindest auf die Option hinzuweisen.

b) Rechtfertigung: Paternalismus und/oder Kosten?

Darüber hinaus muss man sich Rechenschaft im Hinblick auf den Versagensgrund im Rahmen der GKV ablegen. Dieser Versagensgrund mangelnder Qualität hat einen paternalistischen, d. h. bevormundenden Anteil. Denn grundsätzlich ist es Sache des Patienten über Risiken aus der Behandlung zu entscheiden. Behandlungen, auch wenn sie mit zugelassenen Arzneimitteln oder sonstigen anerkannten Behandlungsmethoden folgen, sind häufig nicht risikofrei. Dann besteht die allgemeine Pflicht, darüber aufzuklären, § 630e Abs. 1 BGB. Indessen bleibt es dabei die Entscheidung des Patienten, Risiken einzugehen oder nicht einzugehen. Die gesetzliche Krankenversicherung lässt hier diese Entscheidungsfreiheit muss diese lassen (zur Bedeutung der Entscheidungsautonomie, sich selbst für den eigenen Tod zu entscheiden s. BVerfG Urt. v. 26.02.2020, u. a. 2 BvR 2347/15 s. hier). Auch wenn mehrere Behandlungsoptionen bestehen, gibt es keine Pflicht, sich für die risikoärmste oder aussichtsreichste Behandlungsoptionen zu entscheiden. Es kann auch jederzeit gänzlich auf eine Behandlung verzichtet werden, selbst wenn daraus Risiken und für die Solidargemeinschaft weitergehende Kosten folgen können.

Tragender Grund für die Versagung kann also nur sein, dass man die GKV trotz der Entscheidungsautonomie des Patienten als berechtigt ansieht, die Aufnahme einer Behandlungsoptionen in den Leistungskatalog zu versagen. Maßgeblich ist dann nicht der Schutz des Patienten vor etwaigen eigenen unvernünftigen Entscheidungen, sondern eine fehlende Pflicht aus Sicht der Versichertengemeinschaft „Unvernunft“ zu finanzieren.

Wenn damit unzureichender Nutzen oder zu hohe Risiken eine Versagung tragen können, gilt dies indes nicht für Kosten als solche. Die Unerheblichkeit von Kosten der Behandlung für eine Versagung ist zwar aus wissenschaftlicher Sicht und guten Gründen hoch umstritten. Indes reduziert sich der Dissens, wenn man bezüglich der Kosten zwischen der Frage (1) des Ausschlusses wegen Unverhältnismäßigkeit von Kosten, (2) der Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit von Kosten und Nutzen sowie (3) der Angemessenheit von Kosten im Vergleich zu unternehmerischen Aufwendungen differenziert. Leistungserbringer auf eine nach den Kosten angemessene Vergütung zu beschränken ist trivial zu rechtfertigen, wenn auch komplex in der Bewertung. Ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis zu sichern ist sodann zwischenzeitlich dem Grunde nach etabliert (s. o. II). Alleine stehen allgemeine Rechtsgrundätze des GKV-Rechtes einem Ausschluss einer Behandlung wegen angemessener Kosten entgegen (vgl. LSG NRW, Beschl. v. 28.06.21013, L 11 SF 74/13 ER). Gibt es keine Alternative sind angemessene Kosten, die ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, zu übernehmen unabhängig von der Höhe.

Außerdem ist im Zusammenhang mit der Kostendiskussion pauschalen Annahmen zur finanziellen Überforderung der GKV-Finanzierung durch Innovationen entgegenzutreten. Ohne dass an dieser Stelle eingehend darstellen zu können, ist auf einige zentrale Umstände zu verweisen, die der Annahme einer generellen Überforderung entgegenstehen: Erster Umstand ist, dass im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Anteil der GKV am Bruttosozialprodukt nun schon über Jahrzehnte hinweg nahezu stabil geblieben ist. Es wurden also nicht mehr Mittel im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit verbraucht, sondern der Zuwachs entsprach dem allgemeinen Zuwachs der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Bemerkenswert ist, dass dieser Gleichlauf trotz gewaltiger Fortschritte in der Medizin gelingt. Der Grund dafür, dass gleichwohl die Versicherungsbeiträge steigen, liegt also nicht in außer Kontrolle geratenen Kosten, sondern im Wesentlichen in der Erosion der Einnahmen (s. z. B. hierhier und  hier). Blickt man in die Zukunft, tritt außerdem r Umstand hinzu, dass in der Vergangenheit schon der größte Anteil an Gewinn der durchschnittlichen Lebenserwartung realisiert wurde. Dieser Gewinn wird sich, aufgrund biologischer Grenzen, nicht wesentlich weiter fortsetzen (s. im Detail hier ab S. 36 ff). Es spricht also wenig dafür, dass eine Finanzierung aufgrund wachsender Lebenserwartung schwierig wird. Schließlich ist mit Blick in die Zukunft ebenfalls festzustellen, dass ein knapp überwiegender Anteil des Zuwachses an Menschen im Rentenalter schon erfolgt ist. Der Zuwachs an Rentnern wird weitergehen, aber der Zuwachs wird nicht stärker sein als in der Vergangenheit (s. hier). Schließlich wird zwar im Alter kein Einkommen erzielt, indes bestehen – unbeschadet der Problematik der Vermögensverteilung – erhebliche Vermögenswerte (s. hier).

Mithin sind die wesentlichen Umstände, welche die finanzielle Überforderung aus heutiger Perspektive befürchten lassen, in der Vergangenheit in gleicher Weise und höherer Intensität schon eingetreten gewesen. Trotzdem kam es nachweislich nicht zu einer finanziellen Überforderung. Ungeachtet dessen, dass es eine beständige Aufgabe ist, die Finanzierbarkeit der GKV zu gewährleisten, ist also ein nüchterner und abwägender Blick auf die Zusammenhänge geboten. Zu panischen Sorgen, dass jegliche Weiterentwicklung des Leistungskataloges und Innovationen das System quasi jederzeit in den Abgrund zu stürzen drohen, besteht aber weder aus der Retrospektive noch aufgrund prospektiver Betrachtung Anlass.

Folglich mag nach dem aktuellen Stand das Verhältnis von Nutzen und Kosten relevant werden für die Höhe der zu übernehmenden Kosten wie der Erkenntnisstand zu Nutzen und Schaden einer Innovation von Bedeutung ist. Indes ist es nicht gerechtfertigt aufgrund einer bewussten, unterbewussten oder auch nur nicht reflektierten Finanzierungssorge, Leistungen per se zu versagen. Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass sich bei Cytotect das Kosten-Nutzen-Verhältnis ohnehin gänzlich unproblematisch darstellt.

2. Off label use in der GKV

Dementsprechend ist auch die Gesetzliche Krankenversicherung durchlässiger geworden. Nach der Rechtsprechung des BSG kann ein Off label use bei lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen den Erkrankungen vorgesehen werden, wenn das aufgrund des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes notwendig und zweckmäßig ist. Dem liegt die Überlegung des BSG zu Grunde, dass ein Off label use eben kein Einsatz ohne jegliche Zulassungen ist. Außerdem existieren Konstellationen, bei denen das Arzneimittelzulassungsrecht die ihm zugedachte Funktion nicht erfüllt und dadurch eine Versorgungslücke entsteht. Das schließt das BSG aus dem Umstand, dass es in der Hand der Hersteller liegt, die Erweiterung einer Zulassung zu betreiben, der Hersteller aber aus für den Hersteller nachvollziehbaren Gründen diese Erweiterung nicht betreibt. Dann kann es gleichwohl medizinisch indiziert sein, einen Off label use in den GKV-Katalog zur Lückenfüllung aufzunehmen (BSG, Urt. v.  8.8.2000, B 1 KR 37/00 R). Auch dabei gibt es keine Mindestwahrscheinlichkeit für den Risikoeintritt als Schwelle, wenn nur eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität zu besorgen ist. Zwischenzeitlich gibt es deswegen einen Katalog explizit für die GKV anerkannten zulässigen Off label use, den der Gemeinsame Bundesausschuss unter Berücksichtigung einer nach § 35c SGB V gebildeten Expertengruppe festlegt (s. hier). Hierzu greift die Expertengruppe auf die genannten Rechtsprechungsgrundsätze zurück (s. hier).

Allerdings hat die Rechtsprechung zwischenzeitlich die Anforderungen an einen ausreichenden medizinischen Kenntnisstand angehoben. Zwischenzeitlich muss die Zulassungsreife erreicht werden. Dieser Kenntnisstand kann nur noch angenommen werden, wenn die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Gleichgestellt sind dem außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Aufgrund solcher Erkenntnisse muss in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestehen (BSG, Urt. v. 26.09.2006, B 1 KR 1/06, Rn. 19). Damit hat das BSG den Ausgangspunkt, auf Defizite im Zulassungsrecht Rücksicht zu nehmen, faktisch wieder verlassen, wenn eben Erkenntnisse auf dem Niveau der Zulassungsreife verlangt werden. Das entspricht leider einer grundlegenden Tendenz des BSG, Ausnahmen von der formellen Zulassungsreife immer weite zurückzudrängen. Diese Tendenz hat sich verfestigt und insbesondere in einem Parallelbereich, nämlich Innovationen in der Krankenhausversorgung, sogar vorübergehend zu Entscheidungen contra legem geführt (s. hier). Diese Position ist zwar der Form nach aufgegeben worden, doch BSG hat weiterhin entgegen dem gesetzgeberischen Willen das Anforderungsniveau bei § 137c Abs. 3 SGB V auf die eigenen, geschärften Off label-Kriterien angehoben (s. zuletzt Urt. v. 13.12.2022, B 1 KR 33/21 R, s. hier). Die geschärften Off Label-Kriterien erstarken damit zu einem generalisierten Standard.

3. Off label use und Cytotect

Diese Voraussetzungen der Zulassungsreife sind vor dem Hintergrund der gestiegenen Anforderungen für Cytotect noch nicht gegeben. Jedoch ist die fehlende Zulassungsreife unter Berücksichtigung der sonstigen Erkenntnisse zum Nutzen und dem Ausbleiben von relevanten Risiken (s. o. I) nach zutreffender eigener Erkenntnis des BSG nur ein Indiz für Defizite im Prozess der Arzneimittelzulassung (s. o. 2), nicht für ein grundlegendes qualitatives Problem.

IV. Nikolaus-Beschluss

Damit bildet sich im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung generell eine Grenzziehung zwischen zugelassenen und nicht zugelassenen Leistungen, ohne dass damit per se eine unter Berücksichtigung von Nutzen und Risiken sachlich gerechtfertigte Trennlinie gezogen wäre. Die Zulassung bedeutet in der Sache die widerlegliche Vermutung, dass die Qualität und Wirtschaftlichkeitskriterien erfüllt sind. Das Fehlen einer Zulassung bedeutet indes nicht das Gegenteil. Zwar können Qualität und oder Wirtschaftlichkeit fehlen, es können aber auch schlicht unzureichende Daten vorliegen, wie auch die Erkenntnisse ausreichend wie positiv sein können, aber die Zulassung aus anderen Gründen unterblieben ist. Mithin kommt es auf den konkreten Fall an, gleichwohl lässt das GKV-Recht im Grundsatz keine Ausnahmen zu. Insbesondere gibt es keine Ausnahmen, die einer schlüssigen Logik über alle Leistungsbereiche hinweg folgten. Zudem bleibt auch eine grundlegende verfahrensrechtliche Schwäche. Sehr vereinfacht: über die Gewährung von Ausnahmen und Aufnahmen in das System entscheiden Krankenkassen und zugelassene Leistungserbringer, also diejenigen, die Kosten tragen bzw. schon im System sind und u. U. Konkurrenz fürchten müssen. Die Entscheidungen erfolgen zudem einheitlich für alle Kassen, sodass alle Versicherten gleich gut bzw. gleich schlecht versorgt werden. Das sind alles Faktoren, welche die Berücksichtigung sachfremder Interessen begünstigen, sodass die fehlende Aufnahme einer Leistung in den Leistungskatalog der GKV auch schlichte Konsequenz der strukturellen Defizite des GKV-Verfahrensrechtes sein kann.

1. Grundsatzentscheidung des BVerfG

In dieser Situation hat das Bundesverfassungsgericht am 06.12.2005 den sogenannten Nikolaus-Beschluss gefasst (s. hier). Nach diesem Beschluss wird die formale Anknüpfung an Zulassungen in Fällen lebensbedrohlicher Erkrankungen auch jenseits des Off label use durchbrochen, wenn keine zugelassene Alternative besteht und die bisher nicht zugelassene Leistung eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht. Dem liegen zwei tragende Überlegungen zu Grunde:

Zum einen soll mit dieser Maßgabe die Schutzpflicht des Staates für die Gesundheit seiner Bürger realisiert werden und das insbesondere unter Ansehung des Sozialstaatsprinzips, also zugunsten weniger leistungsfähiger Versicherter. Hierzu muss man sich vor Augen halten, dass zwischenzeitlich die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Lebensjahr bei knapp 5.700 Euro liegen (davon für die Gesetzliche Krankenversicherung: 3.067 Euro). Berücksichtigt man die durchschnittliche Lebenserwartung von 83 Jahren (Frauen) bzw. 78 Jahren (Männer) (s. hier) müsste ein 81-jähriger mithin über 460.000 EUR in seiner gesamten Lebenszeit aufwenden. Auch wenn der Versicherte für 40 Jahre Einkünfte erzielte, bedeutete das, dass er über 11.500 EUR pro Jahr nur für die Krankenbehandlung erwirtschaften müsste. Das ist ein Viertel der Bruttoeinkünfte selbst des Durchschnittseinkommens und mit niedrigeren Einkünften nicht zu leisten. Der Rückgriff des Bundesverfassungsgerichtes auf das Sozialstaatsprinzip war und ist damit nachvollziehbar.

Der zweite Anknüpfungspunkt ist sodann die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Versicherungsbeiträgen und Versicherungsleistungen. Da eine Versicherungspflicht besteht, also kein Wechsel in ein anderes Vollversicherungssystem möglich ist, ist auch ein Anspruch auf ein angemessenes Versicherungsniveau als verfassungsrechtliche Gewährleistung vorgesehen worden. Wenn und soweit eine Versicherungspflicht besteht, kann mithin eine Orientierung daran erfolgen, was ein vernünftiger Versicherer an versicherten Leistungen erwarten würde. Auch das ist eine nachvollziehbare Überlegung.

2. Bewertung und Entwicklung des Nikolaus-Beschlusses

Diese Entscheidung war durchaus der Kritik ausgesetzt. Insbesondere wirkt die Bedingung, dass nur eine nicht entfernt liegende Erfolgsaussicht vorliegen muss, durchaus niedrig. Doch ist zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung auf Härtefälle lebensbedrohlicher Erkrankungen begrenzte. Es geht also nur, aber eben um existentielle Lagen. Zudem hat die Praxis gezeigt, dass das GKV-System zwar ergänzungsbedürftig ist, in der überwiegenden Zahl der Fälle indes die Voraussetzungen für einen solchen existenziellen Fall nicht vorliegen (siehe hier). Auch sichert das Bundesverfassungsgericht letztlich nur materielle Grundpfeiler des GKV-Systems und gewährleistet, dass der Schutz der GKV-Leistungen auch dort realisiert wird, wo das System entgegen der eigenen Grundprinzipien versagt, obwohl es nicht versagen sollte. Das ist mit der Limitation auf lebensbedrohliche Zustände angesichts der vielfältigen strukturellen Defizite im Handling von Innovationen eine eng begrenzte Intervention. Zudem ist diese Intervention der Verfassungsrichter auch im Lichte einer Wechselwirkung zu betrachten. Nur weil es diese Ausnahmen von formalen Anforderungen wie durch den Nikolaus-Beschluss gibt, ist die Ausgestaltung der Zulassungssystematik in der GKV zu rechtfertigen. Denn diese Zulassungssystematik ist zwar dem Grunde nach unerlässlich, weist aber unvermeidbare wie auch eine Fülle vermeidbarer Schwächen auf, welche die Realisierung der Grundideen des Sozialstaatsprinzips und der Verhältnismäßigkeit in puncto Innovationszugang beeinträchtigen. Mithin der Nikolaus-Beschluss nicht eine Ausnahme in der Sache, sondern dient der konsequenten Realisierung materieller Grundprinzipien eines angemessenen und sozial gerechten Versicherungsniveaus auch und gerade in existenziellen Lagen.

Auch wenn das Bundesverfassungsgericht damit eine vorherige ablehnende Entscheidung des Bundessozialgerichtes aufgehoben hatte, folgte das Bundessozialgericht dieser Vorgabe vorerst und weitete diese neben den Fällen der lebensbedrohlichen Erkrankungen auf gleichwertige Erkrankungen aus. Das nahm der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1a SGB V auf. Diese Bestimmung lautet nun in Satz 1:

Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

V. Cytotect kein Nikolaus-Fall?

1. Sozialgerichtsrechtsprechung

Betrachtet man die vorstehende Bestimmung des § 2 Abs. 1a SGB V lassen sich die Cytotect Fälle zwanglos unter diese Bestimmung fassen. Es ist vorbehaltlich der Frage des Wahrscheinlichkeitseintritts unstrittig, dass für die Mutter in dem Risiko der Fehlgeburt bzw. dem Risiko der gravierenden, lebenslangen Behinderung des Kindes eine lebensbedrohliche Erkrankung oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung liegt. Weiterhin war und ist unstrittig, dass keine alternative Behandlung zur Verfügung steht. Auch das Vorliegen einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf Heilung ist unstrittig. Auf Basis des bisherigen Verständnisses sind die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1a SGB V also erfüllt und regelmäßig wurden entsprechende Ansprüche durch Sozialgerichte bestätigt.

2. LSG München und BSG

Anders sahen es dagegen erstmals das LSG München, dass nun vom Bundessozialgericht bestätigt wurde. Tragende Erwägung beider Gerichte ist: Das Risiko eines tödlichen Verlaufs oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung sei zu gering. Dabei gehen beide Gerichte von einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 84 % aus, dass das Kind ohne Beeinträchtigung geboren wird und auch sich keine solche Beeinträchtigung nachfolgend entwickelt. Dabei wird die Perspektive der Mutter eingenommen, wenn sie erfährt das sie infiziert ist. D. h., dass die Wahrscheinlichkeit für die Transmission, also die Übertragung von der Mutter auf das Kind, und die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung kombiniert werden. Nach statistischen Gesetzen bedeutet das, dass bei einem Transmissionsrisiko von 30 % und einer Wahrscheinlichkeit von 50 % einer gravierenden Beeinträchtigung ein Risiko für den Eintritt beider Umstände, also von Übertragung und gravierender Erkrankung, von 15 % besteht (= 0,3 × 0,5).

Festgemacht wird diese Überlegung an dem, was als Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V zu verstehen ist. In diesen Begriff liest das Bundessozialgericht hinein, dass eine Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V nur eine solche Erkrankung ist, bei der eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie zu gravierenden Auswirkungen führt. Die weiteren Ausführungen deuten darauf hin, dass damit ein Risiko von über 50 % bestehen muss und dieses Risiko diese Schwelle zumindest überschreiten muss, gegebenenfalls sogar – da ist das Urteil nicht ganz eindeutig – immer und nachgewiesener Weise überschritten werden muss, also eine Bandbreite von 40% bis 60% nicht genügen würde.

Abgeleitet wird diese Maßgabe überwiegender Wahrscheinlichkeit aus eigener Rechtsprechung, weil in den bisherigen Entscheidungen zu Nikolaus-Fällen häufiger der Terminus einer „großen Wahrscheinlichkeit“ auftauchte. Auch wird der Gesetzgeber für sich in Anspruch genommen, der diese Anforderung der hohen Wahrscheinlichkeit nicht widersprochen habe. Gleiches gilt für das Bundesverfassungsgericht, das in einem Fall von einer hohen Wahrscheinlichkeit gesprochen habe. Folglich stünde Verfassungsrecht solch einer Auslegung nicht entgegen.

3. Kritik

a) Keine Anknüpfung an vorheriger Rechtsprechung

Diese Überlegungen des Bundessozialgerichtes überzeugen nicht. Es ist bisher schon kein Fall in der Rechtsprechung des BSG festzustellen, in dem die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Beeinträchtigung sein muss, entscheidungserheblich war. Es gibt nur einen Fall, der auf ein solches Verständnis hindeuten könnte, in dem allerdings eine Zurückverweisung erfolgte (B 1 KR 22/18 R. 22). In allen anderen Fällen kam es auf die Frage nicht an (vgl. B 1 KR 17/06 R, Rn. 23; B 1 KR 16/07, Rn. 32; B 1 KR 30/15 R, Rn. 59; B 1 KR 4/17, Rn. 21; B 1KR 20/19, Rn 25).

Der Gesetzgeber konnte einer solchen Interpretation sodann nicht zustimmen, wie es das Bundessozialgericht meint. Zu dem Zeitpunkt, als die Bestimmung des § 2 Abs. 1a SGB V im Bundestag beraten wurde, war diese Interpretation des BSG noch nicht bekannt und auch nicht erkennbar.

Schließlich erfolgte auch eine unzutreffende Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes. Dort tauchte der der Begriff der hohen Wahrscheinlichkeit nur durch Bezugnahme auf einen weiteren Beschluss auf, bei dem der Begriff indes nur im Rahmen einer Umschreibung der Wahrscheinlichkeit in einem konkreten Fall auftauchte (Beschl. v. 11.4.2017, 1 BvR 452/17, Rn. 25 i.V.m. Beschluss v. 6.2.2007, 1 BvR 3101/06, Rn. 22). Eine wertende Aussage, dass eine Mindestwahrscheinlichkeit überschritten werden müsste, um den Bereich der von der Verfassung geschützten Gewährleistungen zu erreichen, ist den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht zu entnehmen.

b) Keine sachliche Rechtfertigung

Gibt es keine Präjudizien, sind Sachgründe entscheidend und hier sind die Ausführungen des Bundessozialgerichtes nicht ausreichend. Denn hier erschöpft sich die Argumentation in dem Verweis auf die selbst geschaffene „ständige Rechtsprechung“, die ihrerseits die verfassungsrechtliche Problemlage nicht reflektiert. Damit bleiben die Argumente zirkulär. Es wird nur dargelegt, dass § 2 Abs. 1a SGB V nur die verfassungsrechtliche Gewährleistung zum Ausdruck bringen wolle und eine erweiternde Auslegung nicht gewollt sei. Das ist aber nicht die Frage. Die liegt darin, warum Sozialstaatsprinzip und Verhältnismäßigkeit erst bei einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu beachten sind bzw. wie es gerechtfertigt werden kann, dass trotz unstrittigem Vorliegen einer Krankheit von formalen Zulassungserfordernissen erst bei Wahrscheinlichkeiten > 50% abzusehen ist. Antworten darauf in der Begründung: keine.

aa) Verletzung verfassungsrechtlicher Maßgaben

Folglich kommt Prof. Huster in einem eingehenden Gutachten, das hier in einer Zusammenfassung nachzulesen ist, überzeugend zu dem Ergebnis, dass wesentliche verfassungsrechtliche Wertungen nicht berücksichtigt wurden. Zu diesen Wertungen gehört der besondere Schutz ungeborenen Lebens und die Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung mit der besonderen Verantwortlichkeit der Mutter für ihr Kind.

Weiterhin ist das Sozialstaatsprinzip zu berücksichtigen, das hier – zugespitzt formuliert – arme Eltern in einen Konflikt drängt, indem sie nur noch zwischen Risikobereitschaft und Abtreibung entscheiden können, weil Ihnen die Option der Finanzierung von Cytotect, die begüterten Versicherten zur Verfügung steht, versperrt bleibt.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Cytotect keine Hinweise auf Nebenwirkungen hat, wie die generellen Hemmnisse für die Durchführung von Studien an Schwangeren zu würdigen sind. Der Zugang zur Krankenversorgung sollte nicht davon abhängen, wie leicht oder schwer die Studien Anforderungen zu realisieren sind, wenn diese Unterschiede nicht Ausdruck qualitativer Defizite sind. Darüber hinaus weist Prof. Huster zutreffend darauf hin, dass die statische Anforderung von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für sämtliche Fälle des § 2 Abs. 1a SGB V nicht mit der Notwendigkeit der Einzelfallabwägung in Einklang steht.

bb) Missachtung vorbeugender Versorgung

Diesen Überlegungen ist hinzuzufügen, dass die Besonderheiten vorbeugender Behandlungen zu würdigen sind. Kann nur vorbeugend behandelt werden, entsteht also eine „Jetzt-oder-nie-Situation“, ist nach der der Rechtsprechung für den allgemeinen Krankheitsbegriff des SGB V irrelevant, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Risikoeintritts ist (BSG; Urt. v. 23.02.1973, 3 RK 82/72, Rn. 27). Darüber hinaus ist, wie oben gezeigt, die Wahrscheinlichkeit eines Risikoeintritts auch generell unerheblich dafür, einen Behandlungsbedarf im Rahmen des allgemeinen Krankheitsbegriffs zu begründen bzw. zu verneinen. Erst wenn noch keine Erkrankung vorliegt, also noch nicht einmal ein konkretes Risiko besteht, gilt Anderes. Dann ist der Bereich der präventiven Medizin betroffen. Dieser Bereich der Präventivmedizin ist hier indes nicht berührt. Die Situation der festgestellten Infektion der Mutter führt unstrittig dazu, dass nach allgemeinen Grundsätzen eine Erkrankung vorliegt. Das hat das Bundessozialgericht im Cytotect auch ausdrücklich festgestellt (aaO Rn. 21 ff).

cc) Wertungswiderspruch gegenüber allgemeinen Grundsätzen

Daraus ergibt sich ein drastischer Bruch zwischen den Anforderungen Wahrscheinlichkeiten für zugelassene Behandlungsmethoden und nicht zugelassenen Behandlungsmethoden. Genügt für den zugelassenen Bereich das Vorliegen einer Erkrankung, mithin auch schon das Risiko einer Erkrankung, ohne dass es auf Eintrittswahrscheinlichkeiten ankommt, „springt“ die Wahrscheinlichkeit im Fall des § 2 Abs. 1a SGB V auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit. Das wäre eine massive Restriktion und eine große Zahl von Erkrankungen würde aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert werden. Beispielsweise liegt die Letalität von Ebola, SARS, MERS und der Vogelgrippe teils deutlich unter 50%, ganz zu schweigen von SARS-CoV-2, dessen Letalität bei ca. 1,24% gelegen haben dürfte (s. hier). All diese Erkrankungen würden nach Auffassung des BSG keine existenzielle Situation begründen, die es erlaubt, zumindest im Einzelfall von formalen Zulassungserfordernissen abzusehen. Das Gleiche gälte selbst für die Vermeidung eines Herzinfarktes, da dieser nur noch in wenigen Altersgruppen eine Letalität oberhalb von 50% aufweist (s. hier). Ebenso gilt das für die meisten Krebsarten, die glücklicherweise eine 5-Jahres-Überlebensrate von über 50% haben (s. Krebs – Krebs gesamt (krebsdaten.de)).

Warum sollten all solche Erkrankungen von der verfassungsrechtlichen Gewährleistung ausgeklammert werden? Kann die Differenzierung zwischen Zulassung und Nichtzulassung diesen Bruch rechtfertigen, obgleich die fehlende Zulassung Ausdruck verschiedener Konstellationen sein kann von fehlender Qualität über Unkenntnis von der Qualität bis hin zu strukturellen Zulassungsdefiziten? Kann hier durchgehend die gleiche, äußerst hohe Hürde der Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit gelten, zumal in der Voraussetzung der Lebensbedrohung bzw. wertungsgleichem Risiko bereits eine deutliche Einschränkung gegenüber dem normalen Krankheitsbegriff liegt?

Zudem bleibt zu beachten: der konkrete Fall kennt keine Wahrscheinlichkeiten, sondern nur eins oder null. Die Lebensgefährdung oder nachhaltige Beeinträchtigung realisiert sich oder realisiert sich nicht. Derjenige, der von der Beeinträchtigung getroffen ist, bleibt zu 100 % davon betroffen, auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit bei nur 5 % lag.

dd) Verfassungsrechtliche Relevanz des Wertungswiderspruchs

Diese Überlegungen verweisen auf die verfassungsrechtliche Basis des § 2 Abs. 1a SGB V. Für diese hat sich u. a. als maßgeblich gezeigt, dass Beiträge und Leistungen verhältnismäßig sein müssen (s. o. IV). Dafür kann die Kontrollüberlegungen angestellt werden, was man als vernünftiger Versicherter, wüsste man nicht, welche Erkrankungen einen ereilen können, als Versicherungsumfang für existenzielle Lagen wählen würde. Das Risiko des Versterbens oder gravierende Beeinträchtigung namentlich Behinderungen würde man voraussichtlich nicht erst ab einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, also ab einem Münzwurfrisiko versichern. Das gälte auch dann, wenn zur Qualität noch keine ausreichenden Erkenntnisse bestehen und erst recht nicht, wenn nur strukturelle Mängel ohne Zusammenhang mit qualitativen Umständen eine Zulassung bisher verhindert haben. Auch auf russisches Roulette wird man es nicht ankommen lassen. Noch mehr gilt dies für die Situationen, dass man nur ein enges Zeitfenster für eine vorbeugende Behandlung hat und danach deren Folgen irreversibel ausgesetzt wäre. Das bestätigt ein Blick in die Versicherungsbedingungen privater Krankenversicherung, die in § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK, der Bestimmung für innovative Behandlungen, von vorherein keinen abweichenden Krankheitsbegriff bei fehlenden anerkannten Alternativen kennen.  Gleiches gilt für Beihilfebestimmungen, die teils identisch zu § 2 Abs. 1a SGB V formuliert sind (vgl. z. B. § 33 Beihilfeverordnung Bund), soweit ersichtlich jedoch keiner solch restriktiven Interpretation unterfallen. Mithin gestalten sich die Bedingungen, die zugunsten derjenigen gelten, welche die hiesige Entscheidung getroffen haben, grundlegend anders.

Schließlich würde man Eltern nicht die Gewissensentscheidung abverlangen, die das BSG als angemessen sieht. Man mag sich vorstellen, wie es wäre, wenn das eigene Kind auf sechs verschlossene Türen zuliefe. Man wüsste zwar nicht hinter welcher, aber dass hinter einer der Türen eine Schlucht liegt und der Sturz hinab zu schwersten und irreversiblen Verletzungen führen würde. Keiner würde dem Schicksal seinen Lauf lassen, sondern das Kind aufhalten.

Dieses Gedankenspiel zeigt, was man als verhältnismäßige Gestaltung von Leistungen und Beiträgen ansehen würde. Das mag einem zu plakativ wirken. Doch diese Überlegungen decken sich zugleich mit dem allgemeinen Krankheitsbegriff. Da sodann die verfassungsrechtlichen Maßgaben alleine der Aufrechterhaltung allgemeiner Grundsätze in existenziellen Lagen dienen (s. o. IV 2), führt das zu einer plausiblen Schlussfolgerung: Wenn und soweit es um Lebensgefahren und gleichwertige Beeinträchtigungen geht, kann an die Wahrscheinlichkeit keine höhere Anforderung gestellt werden als nach dem allgemeinen Krankheitsbegriff. Andernfalls käme es zu einer doppelten Restriktion durch die Begrenzung der Art des Erkrankungsrisikos _und_ dessen herausgehobener Wahrscheinlichkeit, ohne dass in dem Fehlen der Zulassung und dessen vielgestaltigen Ursachen auch nur in einen im Ansatz tragenden Grund für diese doppelte Restriktion zu finden ist. Die ohnehin schon auf existentielle Lagen reduzierte verfassungsrechtliche Gewährleistungen würde ohne Verhältnis zu den Gründen, die hinter einer fehlenden Zulassung stehen, und ohne konsistente Relation zum Standard zugelassener Leistungen auf eine Art verfassungsrechtlichen Erinnerungswert zurückgestutzt. Das ist mit der Grundidee, die den verfassungsrechtlichen Wertungen zu Grunde liegt, nicht mehr vereinbar.

Dieses Ergebnis gilt selbst dann, wenn man Kritikern des Nikolausbeschlusses zugeben mag, dass zwar die Voraussetzung der Lebensgefährdung im Zweifel hoch ist, indes die Grenze der bereits nicht entfernt liegenden Aussichten sehr niedrig erscheint. Dann wäre allerdings zu reflektieren, dass eben das starre Verständnis der Schwelle der Erfolgsaussichten wie der Anforderungen an den Krankheitsbegriff problematisch sind und eine Einzelfallbetrachtung geboten ist, wie Prof. Huster dargelegt hat (s. o. aa). Stattdessen aber die Grenze beim Krankheitsbegriff anzuheben, wirkt dann wie eine mögliche Reaktion auf die zu niedrig empfundene qualitative Schwelle. Wäre das die „hidden agenda“ des Urteils – was weder zu belegen noch auszuschließen ist –, wäre das ein Ausgleich eines „Fehlers“ mit einem weiteren „Fehler“. Das überzeugt noch weniger, zumal die Bewältigung der ggf. wahrgenommenen Friktion durch die Einzelfallbetrachtung des Krankheits- und Qualitätsbegriffs des § 2 Abs. 1a SGB V naheliegt.

Auch von solchen Überlegungen zu den originären Grundlagen des Nikolausbeschlusses und der Ausgestaltung des Versicherungssystems, des Krankheitsbegriff sowie den Wertungswidersprüchen zwischen dem allgemeinen Krankheitsbegriff und dem für den § 2 Abs. 1a SGB V statuierten Krankheitsbegriff ist in den Entscheidungsgründen jedoch nichts zu finden. Fragt man nach dem Warum dieses Urteils, bleibt man also ratlos zurück. Was niedergelegt wurde, überzeugt nicht, was die wahren Gründe sein mögen, ist nicht ersichtlich und was man als Sachgründe in Betracht ziehen könnte, verfängt nicht.

VI. Ergebnis

Folglich kann die Entscheidung des Bundessozialgerichtes in keiner Weise überzeugen und es ist zu hoffen, dass die Verfassungsbeschwerde, die gegen die Entscheidung erhoben wurde, erfolgreich ist. Wäre das nicht der Fall, wäre das nicht nur für Familien ein Drama, die das Unglück der CMV-Infektion ereilt und welche sich Cytotect nicht leisten können. Die Folgen würden deutlich darüber hinausgehen, weil damit für viele Erkrankungen eine unüberwindbare Hürde innerhalb des § 2 Abs. 1a SGB V aufgebaut würde, welche die in der Norm liegenden Grundideen des Sozialstaatsprinzips und der Verhältnismäßigkeit verletzt.

 

Prof. Dr. Andreas Penner
Rechtsanwalt