Neue BGH-Entscheidungen zu Rückforderungsansprüchen privater Krankenversicherungen von überzahlter Umsatzsteuer bei patientenindividuellen Zubereitungen – BGH, VIII ZR 44/19 und BGH, VIII ZR 171/19
Zusammenfassung
Der BGH hat am 06.05.2020 erneut über Rückforderungsansprüche privater Krankenversicherungen gegenüber Krankenhausträgern bezüglich überzahlter Umsatzsteuer auf patientenindividuelle Zubereitungen geurteilt (s. hier). Er äußerte sich zur selben Thematik ebenso in einem Beschluss vom 12.05.2020 (s. hier).
Der BGH knüpft damit an seine Entscheidungen vom 20.02.2019 an und führt seine dort eingeführte Rechtsprechung fort. In seinen nun neusten Entscheidungen festigt der BGH die Auffassung, dass ein Rückzahlungsanspruch der Krankenversicherungen zwar grundsätzlich in Betracht kommt, dem gegenüber aber der Vorsteuerabzug der Krankenhausträger entgegenzuhalten ist. Faktisch entfällt dieser Anspruch sodann nur, sofern es gegenläufige Zinseffekte aus dem Rechtsverhältnis zum Finanzamt zu besorgen gibt. Alle sonstigen Nachteile auf Seiten der Krankenhäuser, die nun letztlich nur die Kosten der Versorgung steigern, bleiben nach wie vor unberücksichtigt, obwohl frühere Rechtserkenntnisse ein abgewogeneres Ergebnis erlaubt hätten.
Sachverhalte und Entscheidungen
In beiden Verfahren handelte es sich beim jeweiligen Kläger um eine private Krankenversicherung, welche die jeweilige Beklagte als Krankenhausträgerin auf Rückzahlung von auf Zytostatika entrichtete Umsatzsteuer in Anspruch nahm. Die Beklagte führte die zugehörigen Umsatzsteuerbeträge zuvor an das zuständige Finanzamt ab.
1. Urteil vom 06.05.2020
Im Verfahren des Urteils vom 06.05.2020 hatte das Berufungsgericht auf das Begehren des Klägers ausgeführt, dass diesem kein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB in Verbindung mit § 86 Abs. 1, § 194 Abs. 2 VVG zustehe. Die Beklagte sei gerade durch die Abführung der Umsatzsteuer nicht bereichert. Weder habe sie vom Finanzamt entsprechende Beträge zurückerhalten, noch sei ihr eine vertragliche Nebenpflicht zur Auseinandersetzung mit dem Finanzamt aufzubürden. Der enorme Verwaltungsaufwand zur Rechnungskorrektur, die Risiken von Zinsenzahlungen an das Finanzamt und ein tatsächlicher Anfall von Umsatzsteuer beim Arzneimitteleinkauf führten nicht zu der Annahme einer solchen Nebenpflicht. Der möglicherweise für den Patienten entstehende Vorteil sei im Verhältnis zu den Risiken der Beklagten nicht zumutbar. Vielmehr sei von der Beklagten ein einseitiges Bestimmungsrecht über den Arzneimittelpreis nach §§ 315, 316 BGB ordnungsgemäß ausgeübt worden.
Diesen Ausführungen ist der BGH – aufbauend auf seinen bisherigen Entscheidungen – entgegengetreten. Zunächst stellt er in seiner Entscheidung klar, dass ein einseitiges Wahlrecht nach §§ 315, 316 BGB in derartigen Fällen nicht anzunehmen ist. Der entscheidende Senat führte aus, dass eine solche Vereinbarung regelmäßig nicht im Interesse beider Parteien stünde, gerade aus Sicht des Patienten. Vielmehr stellt er wie zuvor auf eine ergänzende Vertragsauslegung ab. Hierfür kommt es zunächst darauf an, ob die Voraussetzungen einer solchen Vertragsauslegung auch gegeben sind. Dies bestimmt sich nach dem BGH aufgrund des hypothetischen Willens der Vertragsparteien und den maßgebenden Umständen, welche durch die unterinstanzlichen Gerichte festzustellen sind. Der entscheidende Senat stellt in seinem Urteil weiter dar, woran er etwaige Auslegungsergebnisse fest macht: So geht er davon aus, dass Versicherungsnehmer und Beklagte von einer materiellen Umsatzsteuerpflicht in Bezug auf die streitgegenständlichen Zytostatika ausgingen. Dies änderte sich mit dem BMF-Schreiben vom 28.09.2016, in welchem die Umsatzsteuerfreiheit auch für die Vergangenheit klar gestellt wurde. Damit ergibt sich für den BGH eine vertragliche Lücke aus Sicht beider Parteien, welche es per Vertragsauslegung zu schließen gilt. Wie die angemessene Lösung im einzelnen Fall aussieht, macht der BGH maßgeblich daran fest, ob ein offener Umsatzsteuerausweis gegenüber den behandelten Versicherungsnehmern des Klägers erfolgte oder nicht. Wurde die Umsatzsteuer ausgewiesen, so besteht das Risiko von Zinsansprüchen des zuständigen Finanzamtes. Sei die Zinsforderung nicht nur unerheblich, so würde das Interesse der Patienten auf Rückerstattung nicht mehr im Verhältnis zum Interesse auf möglichst geringe Nachteile der Beklagten stehen. Zur Klärung dieser Frage wurde der Fall an das Berufungsgericht zurückverwiesen, es waren hierzu keine hinreichenden Feststellungen getroffen worden.
Weiterhin führte der BGH in seiner Entscheidung seine Ansicht zur Auslegung der Interessen der Vertragsparteien nach § 242 BGB aus. Danach sollten Vermögenszuwendungen nur solange bei einer Partei belassen werden, wie sie auch fortdauernd eingesetzt werden muss. Dies trifft dann mangels Umsatzsteuerpflicht nicht auf die Differenz zwischen der gezahlten Vorsteuer und der veranschlagten Umsatzsteuer bei Medikamentenabgabe zu. Die Parteien hätten redlich nur einen Aufschlag für die vom Krankenhausträger bezahlte Vorsteuer vereinbart. Dieser Auslegung steht der Aufwand in Beziehung zum Finanzamt regelmäßig nicht entgegen. Daneben wird aber auch ausgeführt, dass diese Auslegung dann gilt, wenn die abgeführte Umsatzsteuer auch vom Krankenhausträger beim Finanzamt zurückverlangt werden kann. Dies ist nur solange möglich, wie eine Umsatzsteuerfestsetzung noch nicht bestandskräftig ist. Zudem stellt der BGH klar, dass die Beklagte sich nicht auf eine Entreicherungseinrede berufen kann. Dies liefe dem hypothetischen Willen der Parteien zuwider.
2. Beschluss vom 12.05.2020
Dem Verfahren des Beschlusses vom 12.05.2020 lag die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. vom 26.04.2019 zugrunde (wir berichtet hier). Das Berufungsgericht hatte ausgeführt, dass ein Anspruch des Klägers aufgrund einer wirksamen Bruttopreisabrede nicht bestehen würde. Eine – wie vom BGH vorgesehene – ergänzenden Vertragsauslegung käme nicht in Betracht, da zumindest eine Partei nicht von der Steuerbarkeit der Umsätze ausgegangen sei. Es fehle mithin an einem lückenhaften Regelungsplan zwischen dem Krankenhausträger und den Patienten. Das erstinstanzliche Landgericht habe derartige Fehlvorstellungen bei den Patienten gerade nicht festgestellt. Somit sei vielmehr anzunehmen, dass die Patienten nicht von einer Umsatzsteuerpflicht ausgegangen seien und sich bereits keine Gedanken über den Anfall von Umsatzsteuer gemacht hätten. Bei Privatpatienten läge es nicht fern, dass diese aufgrund des Erhalts von Krankenhausrechnungen um die Problematik der Umsatzsteuerfreiheit wüssten.
Auch diesen Ausführungen ist der BGH entgegen getreten. Er rekurriert hierbei zunächst auf seine vorherigen Entscheidungen und betont, dass eine ergänzende Vertragsauslegung auch in Betracht kommt, wenn die Vertragsparteien ohne Problembewusstsein von einer Umsatzsteuerpflicht ausgegangen sind. Es kommt danach nicht darauf an, ob sich Patienten Gedanken über eine Umsatzsteuerpflicht machen oder nicht. Auch in diesen Fällen läge eine unbedachte Regelungslücke vor und eine ergänzende Vertragsauslegung sei möglich. Darüber hinaus durfte das Berufungsgericht nicht unterstellen, dass Privatpatienten Kenntnisse über eine Umsatzsteuerfreiheit hätten. Andernfalls würden Laien ungeprüft Kenntnisse über ein kompliziertes Gebiet des Umsatzsteuerrechts zugesprochen werden. Dies steht nach dem BGH auch in direktem Widerspruch zu den Ausführungen, dass sich die Patienten zumeist keine Gedanken über die Frage der Steuerpflichtigkeit gemacht hätten. Zusätzlich führt der entscheidende Senat an, dass die ergänzende Vertragsauslegung nach seiner Rechtsprechung gleichzeitig einen Bereicherungsanspruch begründet, welcher nach § 194 Abs. 2 VVG auf die Krankenversicherung übergehen kann. Denn die ergänzende Vertragsauslegung deckt auch die Charakterisierung des Rückforderungsanspruches als bereicherungsrechtlich ab.
Unter diesen Voraussetzungen wurde das zugrundeliegende Urteil aufgehoben und zur Neuverhandlung an das OLG Frankfurt a.M. zurückverwiesen.
Einordnung
Die neuen Entscheidungen des BGH folgen seiner bereits mit den vier Urteilen vom 20.02.2019 aufgestellten Rechtsprechung. Insgesamt gehen die Entscheidung von einem grundsätzlichen Anspruch der Krankenkassen aus, soweit eine vertragliche Auslegung einen solchen Anspruch trägt. Gleichzeitig wird auch die notwendige Berücksichtigung des Vorsteuerabzuges bestätigt.
Auf der anderen Seite erteilt der BGH einem einseitigen Preisbestimmungsrecht endgültig eine Absage. Er stellt deutlich dar, dass es seiner Ansicht nach nicht darauf ankommt, ob Patienten über eine Umsatzsteuerpflicht nachgedacht haben oder nicht. In beiden Fällen hält der BGH eine ergänzende Vertragsauslegung für möglich. Des Weiteren gibt er praktisch Richtlinien zur vertraglichen Auslegung vor. Danach muss zwar der Einzelfall berücksichtigt werden, in der Regel dürfte es aber zu einem Rückforderungsanspruch führen. Dabei gilt nach wie vor der Vorsteuerabzug zugunsten der Krankenhausträger zu beachten.
Fazit und Handlungsempfehlungen
Im Ergebnis bessert sich die Rechtsprechung zugunsten der Krankenhausträger nicht. Vielmehr werden die bereits vorher verschärften Anforderungen weiter verengt. Der BGH gibt praktisch vor, worauf die unterinstanzlichen Gerichte für eine Auslegung des Einzelfalles abzustellen haben. Dabei bezieht der entscheidende Senat nur Zinsnachteile in die Abwägung auf Interessensseite der Krankenhausträger mit ein. Die negativen wirtschaftlichen und administrativen Beeinträchtigungen finden keine Würdigung. Dabei werden verschiedene bisherige Bausteine der Dogmatik der ergänzenden Vertragsauslegung, Irrtums- und Geschäftsgrundlagenlehren und auch der VVG-Auslegung sprichwörtlich „über Bord“ geworfen. Das Ergebnis scheint unbedingt „gehalten“ zu werden müssen. Die in der bisherigen Dogmatik liegenden Maßgaben für einen angemessenen Ausgleich gehen damit ebenfalls verloren.
Folglich verbleibt es für die Verfahren notwendig, unter Orientierung an früherer Dogmatik für ausgewogenere Entscheidungen einzutreten. Zugleich ist die Aufbereitung der tatsächlichen Vorsteuerabzüge als „zweite Verteidigungslinie“ unerlässlich. Zu empfehlen ist außerdem als Lehre für die Zukunft, Umsatzsteuerklauseln in den Behandlungsverträgen vorzusehen und die eigene Dokumentation „fit“ zu halten, für einen erleichterten Zugriff auf Vorsteuervolumina. Maßnahmen im Verhältnis zum Finanzamt müssen daneben stets die Auswirkungen auf die Abrechnung gegenüber den Patienten und umgekehrt im Blick haben. Schließlich kommt es als einen der unsinnigsten Effekte der bisher erfolglosen Bemühungen um Weitblick in Betracht, den Spielraum bei der Preisbildung auszuschöpfen. Das ist letztlich ungünstiger für die Versichertengemeinschaften, allerdings zum Abfangen der Administrationskosten und Risiken aufgrund der Einseitigkeit der Rechtsprechung kaum zu vermeiden.
Dr. Andreas Penner Pierre Finke
Rechtsanwalt Rechtsanwalt
Frühere Newsletter zu diesem Thema:
10.04.2019
BSG, Urt. v. 09.04.2019, B 1 KR 5/19 R: Krankenhäuser müssen Umsatzsteuer erstatten!?