Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Abrechnungsfähigkeit von Spontanatmungsphasen

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Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Abrechnungsfähigkeit von Spontanatmungsphasen

Das Bundessozialgericht hat nun die Entscheidungsgründe zu seinem Urteil B 1 KR 13/20 R vom 17.12.2020 veröffentlicht. Mit dieser Entscheidung setzt sich der 1. Senat mit der Kritik an seinen vorherigen Weaning-Entscheidungen (u.a. B 1 KR 18/17 R vom 19.12.2017), insbesondere zur Anforderung einer „Gewöhnung“, auseinander. Mit den nun veröffentlichten Begründung hat der 1. Senat den Gewöhnungsbegriff insofern konkretisiert, als dieser im Sinne des Begriffes „Abhängigkeit“ zu verstehen sein soll, wie er in dem Positionspapier von DGP und VPK verwendet wird.

Dies hat für die Krankenhäuser durchaus positive Auswirkungen auf streitige oder noch unbezahlte NIV-Beatmungsfälle, die vor dem 01.01.2020 und der zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Änderung der DKR 1001I liegen. Denn die Hürden zur Begründung des Gewöhnungs- bzw. Abhängigkeitszustandes dürfte nun auch für reine NIV-Beatmungsfälle sehr viel tiefer liegen, da nunmehr eine medizinische Betrachtung eröffnet ist. Möglicherweise verlagert sich das Streitgeschehen jetzt aber in die zweite Abrechnungsvoraussetzung, wonach ein gezielter Entwöhnungsprozess stattgefunden haben muss.

I. Sachverhalt und Entscheidung

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wurde der Patient notfallmäßig wegen zunehmender Dyspnoe über 7 Tage im Jahr 2015 behandelt. Ab dem 2. Behandlungstag wurde der Patient intermittierend nicht invasiv bis zu seiner Entlassung beatmet. Die intermittierende Beatmung musste auch nach der Entlassung durch ein Heimbeatmungsgerät fortgeführt werden. Die reine Beatmungszeit betrug 75 h 20 min; zuzüglich der Spontanatmungszeiten sind 115 Beatmungsstunden angefallen und kodiert worden. Das KH hat die DRG A13G abgerechnet.

Die Krankenkasse (KK) hat nur die reinen Beatmungsstunden und damit eine niedrigere DRG anerkannt und vergütet. Daraufhin erhob das KH gegen die KK Klage auf vollständige Vergütung der Beatmungsstunden.

Das SG Koblenz hatte der Klage mit Urteil vom 07.02.2019 stattgegeben (S 3 KR 742/15). Demgegenüber hat das LSG die Entscheidung des SG mit der Begründung aufgehoben, dass das Weaning nicht erfolgreich war. Mit Blick auf die weiterhin erforderliche Heimbeatmung, seien die erforderlichen 24 h stabile Atmung nicht erfüllt.

Das BSG hat hingegen die Entscheidung des LSG mit der Begründung aufgehoben, dass Spontanatmungszeiten nach den Vorgaben der DKR 1001 unabhängig davon kodiert werden können, ob der Patient anschließend heimbeatmet wird (Rdnr. 13-14). Weiterhin bleibt der Senat dabei, dass die Kodierung von Spontanatmungszeiten als Beatmungsstunden nach DKR 1001l voraussetzt, dass der intensivmedizinisch versorgte Patient vom Beatmungsgerät durch den Einsatz einer Methode der Entwöhnung entwöhnt wurde, weil zuvor eine Gewöhnung an die maschinelle Beatmung eingetreten war. Die Abrechnung setzt danach 1. die Gewöhnung des Patienten an die maschinelle Beatmung und 2. eine diesbezügliche zielgerichtete Methode der Entwöhnung voraus.

Zum Begriff der Gewöhnung setzt sich der Senat dann in der Rdnr. 18 mit der ergangenen Kritik auseinander und stellt in der Rdnr. 19 klar:

  • dass sich der Begriff Gewöhnung nicht auf die beatmungstechnisch verursachte Entwöhnungsnotwendigkeit beschränkt. Vielmehr entspreche der Begriff „Gewöhnung“ dem, was etwa das Positionspapier von DGP und VPK unter dem Begriff der „Abhängigkeit“ ebenfalls als Voraussetzung für ein „Weaning“ benennt.
  • Danach liegt eine Gewöhnung vor im Falle der erheblichen Einschränkung oder des Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können. Und ist nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft.
  • Unerheblich ist daher, ob die Fähigkeit zur Spontanatmung nur aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt ist oder auch durch eine Schwächung der Atemmuskulatur infolge der Beatmung oder durch ein Zusammenwirken dieser Faktoren.
  • Eine „Gewöhnung“ an den Respirator ist danach nicht im Sinne einer pathophysiologischen Abhängigkeit zu verstehen, etwa wie bei Suchtkranken.

II. Auswirkungen

Die Klarstellung des BSG wirkt sich wesentlich auf den derzeitigen Diskussionsstand sowohl hinsichtlich der Voraussetzung einer Gewöhnung, als auch des gezielten Entwöhnungsprozess aus.

1. Gewöhnung: Die Klarstellung des BSG, wonach der Gewöhnungsbegriff im Sinne der medizinischen Definition des Begriffs „Abhängigkeit“ im Positionspapiers von DGP und VPK zu verstehen ist, entlastet uns bei der Darstellung und Begründung, dass eine „Gewöhnung“ stattgefunden hat. So ist ausdrücklich auf der Seite 717 klargestellt:

Der begrifflichen Fehleinschätzung im Sinne einer Kausalkette von einer „Gewöhnung hin zur Entwöhnung“ liegt zugrunde, dass hier fälschlich von einer Zustandsänderung ausgegangen wird, die sich biologisch bei der Entwöhnung von einer Abhängigkeit von z.B. Drogen ergibt.

Bei der mechanischen Beatmung findet weder bei kontinuierlicher noch bei intermittierender Beatmung pathophysiologisch eine Gewöhnung im herkömmlichen Sinne statt, sondern eine akute Gasaustauschstörung und/oder Schwächung bzw. Überlastung der Atemmuskulatur stellen die initiale Indikation zur Beatmung dar.

Die Dauer der Beatmungsnotwendigkeit ergibt sich durch die benannten pathophysiologischen Veränderungen, jedoch nicht durch eine Gewöhnung an die Beatmung. Es besteht daher eine Abhängigkeit von einer Beatmung, ohne die der Erhalt des Lebens nicht möglich ist. Eine Gewöhnung liegt demgegenüber nicht vor.

Bei der mechanischen Beatmung findet weder bei kontinuierlicher noch bei intermittierender Beatmung pathophysiologisch eine Gewöhnung im herkömmlichen Sinne statt, sondern eine akute Gasaustauschstörung und/oder Schwächung bzw. Überlastung der Atemmuskulatur stellen die initiale Indikation zur Beatmung dar.

Der Begriff „Abhängigkeit“ ist ebenfalls nicht im Sinne der psychischen oder körperlichen Abhängigkeit bei Suchterkrankungen zu verstehen, sondern in dem Sinne, dass zeitlich begrenzt oder dauerhaft der Betroffene nicht ohne den Ersatz der ausgefallenen Funktion leben kann (vergleichbar der Dialyse oder dem Kunstherz).

Der Begriff „Weaning“ von der Beatmung (deutsche Übersetzung „Entwöhnung“) beschreibt die Befreiung eines Patienten von der Beatmung (im englischen Schrifttum als „Liberation from mechanical ventilation bezeichnet“[1]). Dieser Begriff hat sich international etabliert.“

Bemerkenswert ist dabei, dass der Versuch einer medizinischen Konkretisierung des hauckschen Gewöhnungsbegriffs nicht gelingt, ohne selbigen zu negieren.

In jedem Fall dürfte aber auf dieser Grundlage die Schwelle zur Begründung einer „Gewöhnung“ als erste Voraussetzung zur Abrechnung von Spontanatmungszeiten auch bei ausschließlich nicht-invasiver Beatmung deutlich niedriger liegen als bislang. Dieser ist bisher von überwiegenden Teilen der juristischen Profession insofern verengend falsch verstanden worden, als durch die Beatmung eine Schwächung der Atemmuskulatur eingetreten sein muss. Mit dem erfolgten ausdrücklichen Verweis auf eine akute Gasaustauschstörung in dem vom BSG herangezogenen Positionspapier dürften Erfolgsaussichten für bereits anhängige, als auch noch nicht eingeklagte NIV-Beatmungsfälle deutlich steigen.

2. gezielter Entwöhnungsprozess: Das BSG setzt der Abrechnungsfähigkeit auch weiterhin einen gezielten Entwöhnungsprozess voraus. Hierzu führt der 1. Senat in der Rdnr 20 aus:

Weitere Voraussetzung der DKR 1001l neben der Gewöhnung in dem vorbeschriebenen Sinne ist die Anwendung einer Methode der Entwöhnung, dh ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der Gewöhnung an die maschinelle Beatmung. Es genügt hierfür nicht, dass ein Patient aus anderen Gründen – etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis – nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle nicht-invasive Beatmung erhält.

Leider lässt diese Aussage den Kassen in Fällen respiratorischer Grunderkrankungen (und auch sonst) Spielraum für die Behauptung, dass es sich eben nicht um einen Weaningprozeß, sondern um Beatmung aus Gründen der Grunderkrankung gehandelt hat. Allerdings kann dieser Einwand durch die Darstellung des Zeitpunkts Weaningbereitschaft („readiness to wean“ siehe Seite 32 ff unter 5.1.1 S2k-Leitlinie Prolongiertes Weaning) überwunden werden.

André Bohmeier                                 Julia Zink, LL.M.
Rechtsanwalt                                       Rechtsanwältin