Neue Behandlungsmethoden mit Potenzial einer notwendigen Behandlungsalternative nicht von vornherein ausgeschlossen LSG Baden-Württemberg – Urteil vom (L 11 KR 206/18)

 

Neue Behandlungsmethoden mit Potenzial sind in der stationären Versorgung – hier Coils – sind (doch) zulässig: Der 11. Senat des LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2018, L 11 KR 206/18, stemmt sich gegen seine Kollegen aus dem 5. Senat und gegen den 1. Senat des BSG

Angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen dem Anspruch des Patienten auf Qualität und Wirksamkeit der Leistungen entsprechend dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts gem. § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V und der Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistung im Sinne von §§ 12 Abs. 1 S. 1, 39 Abs. 1 S. 2 SGB V, kommt es immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den Krankenhäusern und den Krankenkassen. Die jüngere Rechtsprechung entschied hier durchweg gegen den Fortschritt in der Medizin, die Krankenhäuser, welche sich um ihn bemühen, und die Patienten, welche die Hoffnung in diesen Fortschritt setzen. In der vorliegenden Entscheidung urteilte das Gericht nun zugunsten der Betroffenen: Neue Behandlungsmethoden mit Potenzial einer notwendigen Behandlungsalternative seien nicht von vornherein im Rahmen einer Krankenhausbehandlung ausgeschlossen. Dies gelte insbesondere im Juli 2013 für eine Lungenvolumenreduktion mittels Implantation von Coils bei Versicherten, die an einer COPD Grad IV leiden. Jedoch stellt das Gericht klar, dass eine bloße Vereinbarung nach § 6 Abs. 2 KHEntgG keinen abgesicherten Vergütungsanspruch begründet.

Mit dieser Entscheidung weicht das LSG Baden-Württemberg von der Entscheidung des BSG mit Urteil vom 19.12.2017, Az.: B 1 KR 17/17 R ab. Ohne eine einzige Erwähnung im Urteil richtet sich der 11. Senat damit auch gegen eine weitere Entscheidung des ersten Senats des BSG, Urteil v. 24.04.2018, Az.: B 1 KR 10/17 R (vgl. zu dieser Entscheidung hier).  Zudem stellt sich der elfte Senat mit der Entscheidung für das Potenzial der Behandlungsmethode als eine Behandlungsalternative bei Patienten mit COPD IV gegen den fünften Senat des LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 23. November 2016, Az.: L 5 KR 1101/16 ab.

Nun muss erneut das BSG entscheiden. Es ist zu hoffen, dass das Bundessozialgericht sich nun der wohl abgewogenen Maßgaben des Gesetzgebers, die der Gesetzgeber zwischenzeitlich in § 137c Abs. 3 SGB V vorgesehen hat, anschließen kann, auch wenn der hiesige Sachverhalt vor der Einführung dieser klarstellenden Bestimmung liegt.

1. Sachverhalt

Die Klägerin ist Trägerin eines zugelassenen Krankenhauses. Der 1944 geborene Versicherter war bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er litt an COPD Grad IV nach GOLD (Global Strategy for the Diagnosis, Management and Prevention of Chronic Obstructive Pulmonary Disease) vom Lungenemphysemtyp und chronischer Herzinsuffizienz. Im März 2013 erfolgte bei ihm eine Lungenvolumenreduktion mittels Implantation von Coils (LVRC). Dabei handelt es sich um Spiralen aus Nitinol, die in gestrecktem Zustand in die mit Luft gefüllten Bronchien eingesetzt werden. Wenn sie anschließend wieder ihre Spiralform annehmen, zieht sich auch das umgebende Lungengewebe zusammen. Die hier streitige Behandlung erfolgte in der Zeit vom 09.07.2013 bis 15.07.2013. Für die Behandlung rechnete die Klägerin die DRG E05A (andere Eingriffe am Thorax mit äußerst schwerer CC) sowie das Zusatzentgelt 76197519 für das Einlegen von 10 endobronchialen Nitinolspiralen iHv insgesamt 22.073,64 Euro ab (22.143,64 Euro abzüglich 70,00 Euro Zuzahlung des Versicherten). Dies beglich die Beklagte zunächst vollständig. Dagegen gelangte der mit der Prüfung des Falles beauftragte MDK insbesondere zur DRG E05C statt E05A. Die Beklagte teilte der Klägerin schließlich mit, dass außerhalb von kontrollierten Studien die experimentelle Anwendung von Lungencoils medizinisch nicht vertretbar sei. Da der gesamte Aufenthalt ausschließlich zur Implantation der Coils erfolgt sei, werde der gesamte Rechnungsbetrag verrechnet. Dies geschah am 06.03.2014.

2. Verfahrensgang

Am 16.04.2014 erhob die Klägerin Klage auf Zahlung dieses Betrages zum Sozialgericht Stuttgart (SG Stuttgart, Az.: S 22 KR 3944/14). Sie machte geltend, der Vergütungsanspruch resultiere aus § 6 Abs. 2 KHEntgG. Danach sollten Vertragsparteien für die Vergütung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB), die mit den Fallpauschalen und Zusatzentgelten nach § 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 KHEntgG noch nicht sachgerecht vergütet werden könnten und die nicht unter Ausschluss von der Finanzierung nach § 137 c SGB V stehen, fallbezogene Entgelte oder Zusatzentgelte vereinbaren. Hierdurch solle eine sachgerechte Finanzierung medizinischen Fortschritts sichergestellt werden. Eine solche NUB-Entgelt Vereinbarung und die Höhe des Entgeltes sei für 2013 unstreitig vereinbart worden. Die Beklagte handelte treuwidrig, wenn sie gegen die Vereinbarung verstoße und die Zusatzentgelte unter Berufung auf Qualitätsanforderungen nicht vergüte. § 6 Abs. 2 KHEntgG sei lex specialis zu § 137 c SGB V. Infolge des Wertungswiderspruches der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 137 c SGB V mit dem Regelungsgehalt der Vorschrift habe der Gesetzgeber mWv 23.07.2015 das geltende Prinzip der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt konkreter geregelt. Es handele sich um eine gesetzgeberische Klarstellung. Dem trat die Beklagte entgegen, dass die Behandlung allein zur Durchführung einer außervertraglichen Behandlungsmethode erfolgt sei, die nicht den Qualitätsanforderungen des SGB V entspreche. Mit Verweis auf das Gutachten vom 18.12.2014 von Dr. S. sei die Behandlung der COPD mit Lungencoils zum Interventionszeitpunkt 2013 als experimentell zu bezeichnen. Mit Urteil vom 14.11.2017 hat das SG die Beklagte verurteilt, an die Klägerin einen Betrag iHv 70 Euro zuzüglich Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.03.2014 zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe zu Unrecht auch den Eigenanteil des Versicherten verrechnet. Die Verrechnung sei im Übrigen zu Recht erfolgt. Der Klägerin sei kein Vergütungsanspruch entstanden, da sie bei der Behandlung des Versicherten nicht das Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V beachtet habe. Insoweit schließe sich das SG den Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg (Urteil vom 23.11.2016, Az.: L 5 KR 1101/16) an. Dieses lautet im Kern

„Bei der Implantation von Nitinolspiralen zur Lungenvolumenreduktion handelt es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB), die nicht dem Qualitätsgebot des SGB V entspricht. Die Implantation ist daher unter Berücksichtigung von § 137c SGB V auch im Rahmen einer stationären Versorgung nicht abrechenbar zu Lasten der Krankenkasse.“

Danach haben auf Grundlage des Gutachtens von Dr. S. die Prüfungen der vorhandenen Publikationen ergeben, dass es sich bis auf eine Studie um nicht vergleichende Fallserien gehandelt habe. Die Ergebnisunsicherheit sei dabei zu groß, da die Patienten nicht verblindet gewesen seien. Der Nachbeobachtungszeitraum von sechs bis maximal zwölf Monaten sei zu kurz, zumal die mit der LVRC erzielten Effekte bereits nach sechs Monaten wieder rückläufig gewesen seien. Der Einfluss der Therapie auf das Gesamtüberleben sei bislang nicht untersucht. Es seien eine Reihe von Komplikationen und Nebenwirkungen beschrieben worden. Zudem stammten die meisten publizierten Ergebnisse von Studien, die vom Hersteller der Coils gesponsert worden seien. Auch bei der einzigen randomisierten Studie von Sha aus 2013 sei keine Verblindung erfolgt. Die Behandlungsmethode sei weder in Leitlinien noch von Fachgesellschaften in der Routineanwendung empfohlen worden. Sie sei daher derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion und weitere randomisierte Studien seien erforderlich, um sie zu einer den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechenden Behandlungsmethode qualifizieren zu können.

Daraufhin legte die Klägerin Berufung gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 14.11.2017, Az.: S 22 KR 3944/14 ein und beantragte, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14.11.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag iHv 17.702,40 € nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.03.2014 zu zahlen. Der Beanstandung der DRG E05A ist die Klägerin nicht mehr entgegengetreten. In der Berufung führte sie aus, der Abschluss der NUB-Vereinbarung mWz 01.01.2013 habe am 29.05.2012 unter Beteiligung des MDK sowie klinischen Experten stattgefunden. Bereits zu diesem Zeitpunkt seien die Beteiligten nach konfliktiven Verhandlungen mit umfassender Prüfung der Evidenzlage auch unter Berücksichtigung der Phase-II-Studie von Slebos zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei der LVRC-Technik um ein qualitätsgerechtes und wirtschaftliches Verfahren handele. Im Vertrauen darauf habe die Klägerin die Leistung erbracht. Das Verfahren erfolge bei Patienten mit COPD III und IV, also schwerstkranken Patienten, die unter rezidivierenden Dyspnoen litten. Außer einer symptomatischen Behandlung der Dyspnoen stünden weitere Behandlungen nicht zur Verfügung. Bereits 2013 habe es mehrere Studien gegeben, darunter auch eine randomisiert kontrollierte Studie. Inzwischen existiere auch eine Bewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), welches das Nutzen der Methode bestätige (Anschlussbericht vom 07.02.2017, Bericht Nr. 487). Die Klägerin verweist insgesamt auf Studien von Slebos 2011, Shah 2013, Klooster 2014, Deslee 2014, dem Privatgutachten von Prof. Dr. S., Universitätsklinikum B., vom 04.04.2018 und der Aufnahme der LVRC in den Behandlungsalgorithmus internationaler Empfehlungen (GOLD-Report 2017 und 2018) sowie in die einschlägigen S2k-Leitlinien COPD.

3. Entscheidung des LSG Baden-Württemberg

Im Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2018 führt dieses u.a. aus, dass bei bestehenden NUB-Vereinbarungen trotzdem eine Überprüfung zu erfolgen hat, ob die zugrunde liegende Leistung dem Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entspricht. Auch wenn bereits für eine noch nicht nach § 137 c Abs. 1 abschließend bewertete Methode ein DRG-Tatbestand geschaffen wurden, hat das Krankenhaus keine gewähr dafür, das Entgelt auch behalten zu dürfen (BSG, Urteil v. 21.03.2013, Az.: B 3 KR 2/12 R). Erst Recht kann dann eine bloße Vereinbarung nach § 6 Abs. 2 KHEntgG keinen abgesicherten Vergütungsanspruch begründen (vgl. BSG, Urteil v. 19.12.2017, Az.: B 1 KR 17/17 R). Entscheidend ist der Prüfungsmaßstab für die Qualitätsprüfung.

Mit Einführung des Begriffs des Potenzials in § 137 c SGB V wollte der Gesetzgeber „den besonderen Bedarf nach – bisher noch nicht auf hohem Niveau belegten – Behandlungsalternativen in der Versorgung von stationär behandlungsbedürftigen und daher typischerweise schwer erkrankten Versicherten“ sicherstellen (BT-Drs 17/6906 S. 86). Dies war eine Reaktion auf die geänderte Rechtsprechung des BSG. Dieses war zunächst ausgehend vom Wortlaut des § 137 c AGB V davon ausgegangen, dass eine Methode im  stationären Bereich solange erbracht werden kann, bis der Ausschuss Krankenhaus (als Vorläufer des Gemeinsamen -Bundesausschusses  – GBA) sie ausgeschlossen hatte (vgl. BSG, Urteil v. 19.02.2003, Az.: B 1 KR 1/02 R). Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung erfordert § 137 c SGB V eine Prüfung der eingesetzten Methoden auf Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit im Einzelfall im Sinne eines Verbotsvorbehalts (vgl. BSG, Urteil v. 28.07.2008, Az.: B 1 KR 5/08).

Nach allgemeinen Grundsätzen entspricht den Qualitätskriterien des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V eine Behandlung, wenn die „große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)“ die Behandlungsmethode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen sie den Stand der medizinischen Erkenntnisse. Diese Anforderung darf aber nicht als starrer rahmen missverstanden werden, der unabhängig von den praktischen Möglichkeiten tatsächlich erzielbarer Evidenz gilt (vgl. BSG, Urteil v. 21.03.2013, Az.: B 3 KR 2/12 R; vgl. BSG, Urteil v. 17.12.2013, Az.: B 1 KR 70/12 R; vgl. BSG, Urteil vom 19.12.2017, Az.: B 1 KR 17/17 R, juris Rn. 14 m.w.N.; vgl auch BSG, Urteil v. 24.04.2018, Az.: B 1 KR 10/17 R, juris Rn.19).

Durch die Einführung des Potenzials einer Behandlungsmethode hat der Gesetzgeber jedoch einen Mittelweg zwischen Anerkennung und Ablehnung einer Methode nach den Grundsätzen einer evidenzbasierten Medizin geschaffen. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 137 c Abs. 1 Satz 2 SGB V. Danach darf der GBA die Anwendung einer bestimmten Behandlungsmethode nicht bereits dann untersagen, wenn eine Überprüfung ergibt, dass der Nutzen dieser Methode nicht hinreichend belegt ist. Eine Untersagung darf erst dann erfolgen, wenn die Methode darüber hinaus auch nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet. Die Regelungen des § 137 c SGB V schaffen – entgegen der Auffassung des BSG (vgl. BSG, Urteil v. 19.12.2017, Az.: B 1 KR 17/17 R, juris Rn.22; vgl. auch BSG, Urteil v. 24.04.2018, Az.: B 1 KR 10/17 R, juris Rn.17) – nicht nur Raum für den GBA, Richtlinien zur Erprobung nach § 137 e SGB V zu beschließen. Darüber hinaus wird das in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V geregelte (allgemeine) Qualitätsgebot in § 137 c SGB V speziell für im Rahmen von Krankenhausbehandlung vorgesehene oder bereits zur Anwendung kommende Methoden konkretisiert.

Der Gesetzgeber hat zudem mit Anfügung des Abs. 3 (BT-Drs. 18/4095 S. 121) als weitere Reaktion auf die Rechtsprechung des BSG  das Prinzip der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt konkreter im Gesetzt geregelt („Konkretisierung und Klarstellung“) und einheitliche Bewertungsmaßstäbe für innovative Methoden in der stationären Versorgung sowohl auf Ebene des GBA als auch auf Ebene der Entscheidung der Leistungserbringung vor Ort geschaffen, etwa über den Abschluss einer Vereinbarung über ein Entgelt nach § 6 abs. 2 KHEntgG (BT-Drs 18/5123 S. 135). Auch wenn der Abs. 3 des § 137 c SGB V im hier maßgeblichen Zeitraum der Leistungserbringung im Juli 2013 noch nicht gegolten hat, war seit 2012 der Begriff des Potenzials bereits mit dem Ziel eingeführt, gerade auch „noch nicht auf hohem Niveau belegte“ Behandlungsalternativen im stationären Bereich zu ermöglichen. Nur ein solches Verständnis des § 137 c SGB V vereinbart die Regelungen über die Qualitätssicherung mit den Vorschriften im Bereich der Krankenhausfinanzierung. Sinn der NUB-Entgelte ist gerade die Innovationsförderung für einen begrenzten Zeitraum. Vorausgesetzt es liegt kein Ausschluss der Methode durch den zuständigen Ausschuss vor, reicht für die Begründung ein geschwächtes Evidenzlevel (vgl BT-Drs 18/5123 S. 135) (a.A.  BSG, Urteil v. 24.04.2018, Az.: B 1 KR 10/17 R).

Nach diesen Maßstäben ist hinsichtlich der LVRC im Juli 2013 vom Vorliegen  des Potenzials einer Behandlungsalternative auszugehen. Die Methode hatte das Stadium eines rein experimentellen Verfahrens – entgegen der Ansicht des LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 23.11.2016, Az.: L 5 KR 1101/16) – bereits verlassen. Im Juli 2013 lagen folgende Studien vor: Herth/Eberhard/Gompelmann/Slebos/Ernst: Bronchoscopic lung volume reduction with a dedicated coil, a clinical pilot study. Ther Adv Resp Dis 2010, 4; 225-31 – epub 10.06.2010 (Herth 2010); Slebos/Klooster/Ernst/Herth/Kerstjens: Bronchoscopic lung volume reduction coil treatment of patients with severe heterogeneous emphysema. Chest 2012; 142; 574-582 – epub 23.11.2011 (Slebos 2011); Shah/Zoumot/Singh/Bicknell/Ross/Qiring/Hopkinson/Kemp: Endobronchial coils for the treatment of severe emphysema with hyperinflation; a randomized controlled trial. The Lancet Respiratory Medicine 2013; 1; 223-240 – epub 23.04.2013 (RESETStudie). Insbesondere steht diesen Studien nicht die fehlende Verblindung der Patienten entgegen. Bereits aus ethischen Gründen ist dies bei interventionellen Implantationsverfahrens nicht möglich. Der Patient muss bereits postinterventionell zum Ausschluss von Komplikationen geröntgt werden, woraus offensichtlich wird, ob er mit Coils behandelt worden ist. Weitere Studien liefen zu diesem Zeitpunkt noch bzw. folgten später. Im Abschlussbericht des IQWiG (Stand: 07.02.2017, Bericht Nr. 487) wird für die LVRV ausgeführt, dass sich aus inzwischen drei Studien ein Hinweis auf Nutzen hinsichtlich der Symptomatik (Atemnot), ein Anhaltspunkt für Schaden hinsichtlich der Exazerbationen sowie ein Beleg für Schaden im Hinblick auf vermehrte weitere unerwünschte Wirkungen ergab. Bei zwei Endpunkten wurde für die Subgruppe der Patienten mit einem pulmonalen Restvolumen von mindestens 225% Soll ein Beleg für Nutzen (hinsichtlich der körperlichen Belastbarkeit) bzw. ein Hinweis für Nutzen (hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität) abgeleitet. Für die Subgruppe mit einem RV unter 225% konnte ein Anhaltspunkt für Nutzen hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität abgeleitet werden.

In der am 24.01.2018 von den beteiligten Fachgesellschaften verabschiedeten S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis und Lungenemphysem (COPD), AWMF-Register Nr 020/006 wird die LVRC nunmehr empfohlen. Nach dieser Leitlinie kann die endoskopische Lungenvolumenreduktion bei einem ausgeprägten Lungenemphysem mit einem forcierten expiratorischen Volumen (FEV1)
von <45% des Solls nach Bronchodilatatorgabe sowie einer Lungenüberblähung mit einem RV von >175-200% des Solls eingesetzt werden nach Ausschöpfung aller konservativer Maßnahmen. Positive Ergebnisse können nach der Leitlinie bei korrekter Patientenselektion sowohl beim homogenen wie beim heterogenen Emphysem erzielt werden. Auch in internationalen Empfehlungen ist die LVRC inzwischen aufgenommen (GOLD-Report 2017, 2018 und 2019).

Dieser Überblick zeigt, dass es sich bei der LVRC jedenfalls im Jahr 2013 um eine Behandlungsmethode mit Potenzial gehandelt hat, die inzwischen von der Mehrheit der einschlägigen Fachleute befürwortet werden dürfte. Die Behandlung des Versicherten war auch konkret erforderlich iSv § 39 SGB V und zur Behandlung der schweren COPD mit homogenem Lungenemphysem geboten.

4. GBA-Beschluss* über eine Änderung der Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung: bronchoskopische Lungenvolumenreduktion mittels Einlage von Spiralen (Coils) beim schweren Lungenemphysem vom 20.12.2018

Die Entscheidung für die Behandlungsmethode wird durch den nach dem Urteil ergangenen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses bekräftigt. Dieser beschloss am 20.12.2018 die Richtlinie Behandlungsmethoden im Krankenhaus wie folgt zu ändern:

„I. In Anlage I „Methoden, die für die Versorgung mit Krankenhausbehandlung erforderlich sind“ wird nach Nummer [X] folgende Nummer [Y] angefügt:

[Y]. Bronchoskopische Lungenvolumenreduktion mittels Einlage von Spiralen („Coils“) beim schweren Lungenemphysem mit einem pulmonalen Residualvolumen von mindestens 225% vom Soll.

  1. In der Anlage II „Methoden, deren Bewertungsverfahren ausgesetzt sind“ wird im Abschnitt A (Aussetzung im Hinblick auf laufende oder geplante Studien) nach Nummer [X] folgende Nummer [Y] angefügt:

[Y]. Bronchoskopische Lungenvolumenreduktion mittels Einlage von Spiralen („Coils“) beim schweren Lungenemphysem mit einem pulmonalen Residualvolumen unter 225% vom Soll.

Beschluss gültig bis: 30. Juni 2023“

(*noch nicht in Kraft getreten)

Gründe (auszugsweise):

Im Rahmen einer Expertenanhörung betonten diese, dass mit der bronchoskopischen LVR erstmals eine Therapie für Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehe, für die bislang keine wirksamen Therapieangebote zur Verfügung gestanden habe. Die COPD mit einem schweren Lungenemphysem sei in diesem Punkt vergleichbar mit einem onkologischen Krankheitsbild in einer Palliativsituation. Gleichzeitig betonten die Experten die hervorgehobene Bedeutung einer sorgfältig abgewogenen Indikationsstellung, welche für alle Verfahren der LVR gelte und wesentlich beeinflusse, ob der Nutzen der Methode die Nebenwirkungseffekte übertrifft. Die Experten wiesen darauf hin, dass die Grundbedingung für die LVR das Vorliegen von Emphysem und Überblähung sei und vor einer bronchoskopischen LVR sichergestellt sein müsse, dass konservative Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft seien und Kriterien wie etwa eine Rauchabstinenz vorlägen.

Die Studien (REVOLENS: Deslée G et al. Lung Volume Reduction Coil Treatment vs Usual Care in Patients With Severe Emphysema: The REVOLENS Randomized Clinical Trial. JAMA. 2016;315(2):175-84. et al.) sowie der Abschlussbericht des IOWiG zeigten, dass die bronchoskopische Einlage von Coils bei Patientinnen und Patienten mit einem schweren Lungenemphysem zu einer Lungenvolumenreduktion führe. Insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit schwerer Lungenüberblähung (pulmonales Residualvolumen mindestens 225% vom Soll) führe dies zur signifikanten Verringerung von Dyspnoe, zur verbesserten körperlichen Belastbarkeit, zu Verbesserungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und zu verbesserten Lungenfunktionsparametern. Weitere Prädiktoren für eine erfolgreiche Therapie mit Coils seien nur teilweise etabliert. Demgegenüber stehen für die Gesamtpopulation der Patientinnen und Patienten mit schwerem Lungenemphysem aber Anhaltspunkte für einen Schaden hinsichtlich von Exazerbationen bzw. ein Beleg für einen Schaden im Hinblick auf vermehrte weitere unerwünschte Wirkungen.

Der G-BA kommt daher zu der Einschätzung, dass die Datenlage für die Anwendung von Coils beim schweren Lungenemphysem für die Teilpopulation der Patientinnen und Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von mindestens 225% vom Soll eine Bewertung des Nutzens der Methode auf einem ausreichend sicheren Erkenntnisniveau erlaube, während für die Teilpopulation der Patientinnen und Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von weniger als 225% vom Soll gegenwärtig keine abschließende Nutzenbewertung möglich sei.

In der Gesamtbewertung stellt der G-BA fest, dass der Nutzen der Methode für Patientinnen und Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von mindestens 225% vom Soll belegt sei. Für Patientinnen und Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von weniger als 225% vom Soll sei der Nutzen zwar noch nicht hinreichend belegt, die Methode biete aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative, weil sie aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse mit der Erwartung verbunden sei, dass bei bestimmten Patientinnen und Patienten nicht erfolgreiche Methoden ersetzt werden können oder sie zu einer Optimierung der Behandlung führen könne. Insoweit wird auf die Ergebnisse der laufenden Studien (ELEVATE, NCT03360396 et al.) verwiesen und die Beschlussfassung für diese Patientengruppe ausgesetzt. Er verzichtet auf eine Richtlinie zur Erprobung nach
§ 137 e SGB V.

5. Aussicht

Die hochumstrittene Thematik um neue Untersuchung- und Behandlungsmethoden, die seitens des BSG und dem fünften Senats des LSG Baden-Württemberg äußerst restriktiv und contra legem behandelt wird (vgl. hier), erhält durch die zu begrüßende Entscheidung des elften Senats des LSG  und die Zulassung zur Revision die Chance zur Überprüfung der fragwürdigen Rechtsprechung. Neuen Behandlungsmethoden „mit Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative“ kann so doch noch zum Durchbruch verholfen werden.

 

Julia Zink
Rechtsanwältin