Bundesverfassungsgericht billigt sachlich-rechnerische Prüfung für Zeiträume bis 31.12.2015

 

Bundesverfassungsgericht billigt sachlich-rechnerische Prüfung für Zeiträume bis 31.12.2015

Das Bundesverfassungsgericht hat am 26.11.2018 über die Verfassungsbeschwerden zur Aufwandspauschale (s. hier) entschieden (s. hier). Heute wurde die Entscheidung veröffentlicht. Die Verfassungsbeschwerden wurden nicht angenommen. Die Entscheidung betraf folgende Urteile des Bundessozialgerichtes und dazu erhobene Verfassungsbeschwerden

  • Urteil vom 25. Oktober 2016 – B 1 KR 16/16 R -,
  • Urteil vom 25. Oktober 2016 – B 1 KR 18/16 R -,
  • Urteil vom 25. Oktober 2016 – B 1 KR 19/16 R -,
  • Urteil vom 25. Oktober 2016 – B 1 KR 22/16 R -,

– 1 BvR 2207/17 –

  • Urteil vom 28. März 2017 – B1 KR 23/16 R -,

– 1 BvR 1474/17 –

  • Urteil vom 23. Mai 2017 – B 1 KR 24/16 R -.

– 1 BvR 2207/17 –

Ihr Gegenstand war die Frage, ob die Erfindung der sog. „sachlich-rechnerischen“ Prüfung contra der Bestimmung des § 275 SGB V mit der Gesetzesbindung der Gerichte vereinbar ist. Diese Erfindung stammt vom 1. Senat des BSG aus dem Jahre 2014. Sie führte für wesentliche Bereiche der Prüfung von Krankenhausrechnungen dazu, dass die Krankenkassen auch jenseits der Frist zur Einleitung von Rechnungsprüfungen von sechs Wochen bis zu vier Jahren rückwirkend „prüfen“ und Vergütungen zurückfordern konnten. Zugleich wurden die Krankenkasse von der Aufwandspauschale entlastet, einem Betrag in Höhe von 300 Euro, der die Krankenkassen zur Konzentration auf tatsächliche Auffälligkeiten anhalten sollte. Die Instanzrechtsprechung hat diese Erfindung umfassend als rechtswidrig eingestuft und die Grenzen richterlicher Rechtfortbildung überschritten gesehen (s. hier).

Das Bundesverfassungsgericht war hier anderer Meinung und hat dies in einer sich windenden Begründung zum Ausdruck gebracht. Die Begründung attestiert dem BSG die Verfolgung eines sogar fernliegenden, doch nicht verfassungswidrigen Ergebnisses.

Bedauerlich ist, dass der Zusammenhang zwischen Vergütung und Möglichkeiten zur sachgerechten Versorgung von Patienten (vulgo: Berufsausübung im Interesse essentieller Grundrechte der Patienten) negiert wurde (s. u.). Weiterhin wird man also an die Gerichte appellieren müssen, die Notwendigkeit anzuerkennen, dass eine sachgerechte Versorgung auch sachgerechter Vergütung bedarf, um Ärzte, Pflegekräfte, Pharmaunternehmen, Medizinproduktehersteller etc. angemessen bezahlen zu können. Ebenso wird man weiterhin an die Gerichte appellieren müssen, der Vorhersehbarkeit größeres Gewicht einzuräumen. Die Rechtsprechung des 1. Senats ist nicht deswegen so einschneidend, weil deren Anforderungen, kennt man sie, unerfüllbar wären. Selbst wenn das der Fall ist, kann außerdem eine Versorgung durch Verweis auf alternative Leistungserbringer erfolgen. Dramatisch ist vielmehr die Rückwirkung, die ein Verhalten gemäß der Anforderungen ausschließt und stattdessen gewillkürt zur letztlich kostenfreien Leistung bei gleichwohl erfolgtem Aufwand zwingt.  

Nicht ausdrücklich äußerst sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen zur Zulässigkeit der Rückforderung nach Zahlung der Aufwandspauschale für den Zeitraum vor dem 01.01.2016, Übergangsfällen am Schnittpunkt 2015/2016 sowie zur zukünftigen Reichweite des § 275 SGB V in der Fassung ab 01.01.2016. Eine Befriedung für die Fälle in der Klagewelle vor dem 09.11.2018 (s. hier) wird leider ebenfalls nicht eintreten. Es ist das Gegenteil zu befürchten angesichts des Raums nahezu unbegrenzter Auslegung, der dem 1. Senat weiter zur freien Disposition verbleibt.

Hier einige Auszüge aus der Entscheidung:

1. Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte stehen mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) im Einklang, wenn sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegen. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, dass gerichtliche Entscheidungen diesen Anforderungen genügen (vgl. BVerfGE 128, 193 <209 ff.>; 132, 99 <127 f. Rn. 73 ff.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 u.a. -, juris, Rn. 72 ff.; stRspr). […]

2. Davon ausgehend überschreitet die angegriffene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Abgrenzung einer sachlich-rechnerischen Prüfung von einer in § 275 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB V allein geregelten Auffälligkeitsprüfung die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung noch nicht: Einfachrechtlich wäre zwar ein anderes Verständnis der maßgeblichen Vorschriften vertretbar, wenn nicht sogar naheliegend. Das aber führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der hier angegriffenen Entscheidungen nach der bis 31. Dezember 2015 geltenden Rechtslage. […]

Da nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB V die „ordnungsgemäße“ Abrechnung zu prüfen ist, enthält die Vorschrift zwar noch einen weiteren Anhaltspunkt, der gegen das Verständnis des Bundessozialgerichts spricht; unvertretbar wird dieses dadurch jedoch angesichts der widerstreitenden Auslegungsgesichtspunkte nicht. […]

In der Sache hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts durchaus gewichtige Gründe für sich, auch wenn der Gesetzgeber sich diese im Kontext der Einführung und Änderung von § 275 Abs. 1c SGB V nicht zu eigen gemacht hat. […]

Zwar wird in den Materialen zur Einführung von § 275 Abs. 1c SGB V durch das Fallpauschalengesetz auch auf den Umfang und die Komplexität der Kodierregeln und der dadurch veranlassten Fehlabrechnungen eingegangen und dieses Problem offenbar dem Anwendungsbereich der Norm zugeordnet. Allerdings ist anhand der Begründung nicht erkennbar, ob der Gesetzgeber dies als weitere Fallgruppe der Norm versteht, oder ob ihm der Unterschied zwischen sachlich-rechnerischer Richtigstellung und Wirtschaftlichkeitsprüfung möglicherweise nicht hinreichend bewusst war. Im Ergebnis begründet diese Unsicherheit aber keinen entgegenstehenden Willen, da dieser nicht klar erkennbar zutage getreten ist, sondern der Interpretation des Rechtsanwenders bedarf. Die Grundannahme des Bundessozialgerichts, welche allein die Wirtschaftlichkeitsprüfung dem Prüfungs-regime des § 275 SGB V unterstellt, läuft daher nicht dem (erkennbaren) gesetzgeberischen Willen zuwider. […]

Die Rechtsänderung zum 1. Januar 2016 ändert daran nichts: Zwar ist unverkennbar, dass mit der Anfügung von § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V die streitige Rechtsprechung korrigiert werden sollte. Dies ist jedoch kein Indiz für einen vorher schon vorhandenen entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers. […]

Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind solche Ausführungen in Gesetzgebungsmaterialien, die eine ständige Rechtsprechung grundsätzlich akzeptieren, zweifellos von Bedeutung, selbst wenn sie im Rahmen einer deren Auswirkungen für die Zukunft weitgehend korrigierenden Gesetzesänderung erfolgen. […]

Das Bundesverfassungsgericht zieht die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung enger, wenn sie sich nachteilig auf ein verfassungsrechtlich besonders ge-schütztes Rechtsgut auswirkt (vgl. BVerfGE 49, 304 <319>) und je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition verfassungsrechtlich wiegt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 31. Oktober 2016 – 1 BvR 871/13 u.a. -, juris, Rn. 20). Vor diesem Hintergrund besteht vorliegend ein weiter Spielraum für die richterliche Rechtsfortbildung. Betroffen sind schlichte Zahlungsansprüche zwischen juristischen Personen ohne Verknüpfung mit verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen. Es geht nur um die Reichweite eines Steuerungsinstruments, das der Gesetzgeber zwischen beiderseits auf öffentliche Finanzmittel angewiesenen professionellen Akteuren des Gesundheitswesens einsetzt.

 

Dr. Andreas Penner André Bohmeier
Rechtsanwalt Rechtsanwalt