Update: Zwischenzeitlich sind die Texte zu dem Reform-Beschluss vom 16.05.2019 veröffentlicht worden (s. hier). Sie werden noch durch das BMG geprüft und sind noch nicht in Kraft. Die nun veröffentlichten Texte enthalten inhaltliche Abweichungen gegenüber der bisherigen Berichterstattung. Eine Gegenüberstellung der Änderung der Arztzahlen finden sie hier.
Am 16.05.2019 ist eine Reformierung der Bedarfsplanung beschlossen worden (Pressemitteilung). Kernpunkt ist die Anpassung der sog. Verhältniszahlen an aktuelle Versorgungsbedarfe. Die Verhältniszahlen begrenzten durch einen Schlüssel wie z. B. 1 Hausarzt je 1.617 Einwohner oder 1 Augenarzt je 20.664 Einwohner die Anzahl der Ärzte, die sich in einer Region niederlassen konnten, um sich an der Versorgung gesetzlich Versicherter zu beteiligen. Die vielfältigen Details hierzu werden in der Bedarfsplanungsrichtlinie geregelt (hier im Überblick). Die tatsächlichen Grundlagen für diese Verhältniszahlen sind jedoch bald 30 Jahre alt und veraltet. Tatsächlich führte das Festhalten an den überholten Annahmen zu einer Vielzahl von Friktionen. Entgegen der Erwartung, nur lokaler Überversorgung entgegentreten zu müssen, entwickelte sich die Bedarfsplanung zu einer absoluten Zulassungssperre. Das heißt, es gab für viele Arztgruppen im gesamten Bundesgebiet keine freie Niederlassungsmöglichkeiten mehr (s. hier). Zugleich gab es in anderen Arztgruppen deutlich Unterversorgungsanzeichen (z. B. bei Hausärzten, Psychotherapeuten, Rheumatologen). Auch dort, wo nominell eine Überversorgung bestehen sollte, waren aber übervolle Arztpraxen zu beobachten, obwohl sich die Überversorgung nicht selten im Bereich des Doppelten des vermeintlichen Bedarfes bewegte (s.hier am Beispiel der Fachinterinsten; zu einem Gesamtüberblick für 2016 s. hier).
Gleichwohl hat sich jedenfalls die Rechtsprechung seit der Grundsatzentscheidung im Jahre 1998 stoisch an der Rechtfertigungsfähigkeit der Bedarfsplanung festgehalten, obgleich sich die Frage der Rechtfertigungsfähigkeit aufdrängt. Die Bedarfsplanung basiert auf der Grundannahme, es bedürfe einer Begrenzung, um Anreize zu überflüssiger Versorgung (Begründung Entwurf zum GSG, BT-Drucks 12/3608 S. 97 f). Diese Annahme wird als sog. angebotsinduzierte Nachfrage bezeichnet. Indes ist diese Theorie empirisch – auch international – ohne ausreichenden Nachweis geblieben (vgl. z. B. hier). Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Vergütung für Ärzte und dem Umfang der Versorgung, indes keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Ärzte und dem Umfang der Versorgung. Zugleich haben sich die Bemühungen um Steuerung, d. h. z. B. Begrenzung der Überversorgung in der Stadt zwecks Vermeidung der Unterversorgung auf dem Land oder gar Vermeidung der Überversorgung mit Fachärzten zwecks Vermeidung der Unterversorgung mit Hausärzten nie realisieren lassen. Schließlich hat die Aufhebung der Bedarfsplanung bei den Zahnärzten gezeigt, dass die Bedarfsplanung auch auf ein reines Messinstrument beschränkt werden kann, ohne dass deswegen die Versorgung beeinträchtigt wäre. Das änderte jedoch nichts. Zu einer Hinterfragung der theoretischen Annahmen war die Rechtsprechung nicht zu motivieren. Es klaffte – wie häufig – eine Lücke zwischen Anforderungen an Leistungserbringer, evidenzbasierte Medizin zu leisten, und der Freiheit für den Gesetzgeber und die Selbstverwaltung, die Organisation anhand eminenzbasierter Annahmen zu gestalten, selbst wenn diese empirisch widerlegt sind.
Der Gesetzgeber und der Gemeinsame Bundesausschuss waren demgegenüber einsichtiger. Die Bedarfsplanung wurde in einem umfangreichen Gutachten überprüft. Dort wurde zwar die Sinnhaftigkeit der Bedarfsplanung nicht hinterfragt, doch die Schwächen deutlich herausgearbeitet. Zudem ist es bemerkenswert, dass das Gutachten zur Begründung der Bedarfsplanung auf die Grundannahme der anbieterinduzierten Nachfrage keinen rechtfertigenden Bezug nimmt. Im Mittelpunkt soll nunmehr die Steuerungsfunktion stehen. Diese Steuerung soll verfeinert werden, mithin jedenfalls eine präzisere Bestimmung der Bedarfe erfolgen. Zudem wird eine Aktualisierung vorgeschlagen. Bemerkenswerterweise soll diese Aktualisierung – mangels besserer Instrumente – durch Orientierung am tatsächlichen Angebot erfolgen. Insoweit waren in dem Gutachten eine Vielzahl anderer Ansätze erwogen und verworfen worden. Erfreuliches Nebenprodukt der Überlegungen sind an dieser Stelle im Übrigen vielfältige Hinweise für Bedarfsindikatoren, insbesondere noch zumutbare Wartezeiten.
Mit diesem schlussendlich pragmatischen Rückgriff auf die Versorgungsrealität, werden alle nominellen Überversorgungen als echter Versorgungsbedarf anerkannt. Daraus ergeben sich neue bundesweite Mittelwerte. Diese bundesweiten Mittelwerte sollen sodann nach dem Gutachten über ein sehr ausdifferenziertes und äußerst durchdachtes System zu einer regional verbesserten Bedarfsbestimmung genutzt werden, die Unter- und Überversorgungen besser erkennen lässt mit einer Tendenz, Flächen trotz aktueller Mangelversorgung nicht unversorgt zu lassen. Gerade in diesem Punkt sind in dem Gutachten extensive Überlegungen erhalten, wie man mit möglichst höher Präzision auch regionale Bedarfe bestimmen kann. Dazu sind in beeindruckender Weise verschiedene Modelle erarbeitet, überprüft und einander gegenübergestellt worden.
Die schlussendlich präferierten Ansätze führten in dem Gutachten sodann zu folgender Abschätzung:
Dieser Ansatz den vermeintlich verfehlten Ist-Stand zum neuen Soll-Stand zu deklarieren, dürfte nach den bisher bekannten Informationen der Gemeinsame Bundesausschuss im Kern gefolgt sein (s. das FAQ des G-BA hier). Das ist zu begrüßen, auch wenn es wünschenswert gewesen wäre, darüber hinauszugehen.
Im Einzelnen wird nach der dargestellten Hochrechnung bei den bisher im wesentlichen (vermeintlich) überversorgten Disziplinen der vorhandene Stand als neuer Soll-Stand anerkannt und – regionalen Schwankungen geschuldet – jeweils marginal erhöht. Ohnehin schon unterversorgte Bereiche erfahren eine genauere Bemessung des Defizites. Dabei weist die erste Spalte die Zahl der aktuell bundesweit vorhandenen freien Niederlassungsmöglichkeiten aus, die zweite Spalte die zusätzlichen Möglichkeiten und die dritte Spalte die daraus folgenden insgesamt zusätzlichen Sitze:
Die Details hierzu werden der noch ausstehenden Veröffentlichung der Neufassung der Bedarfsplanungsrichtlinie zu entnehmen sein. Daraus wird sich ergeben, ob es zukünftig so etwas wie eine Dynamisierung der Arztzahlen geben wird. Interessant ist außerdem, dass es zudem in der Gruppe der Fachinterinsten und Nervenärzte sog. „Unterquoten“ gibt. In diesen Fachgruppen sind heterogene Fachrichtungen zusammengefasst (z. B. bei den Fachinternisten u. a. Kardiologen, Pneumologen, Onkologen, Rheumatologen etc.), die einander nicht ersetzen können, gleichwohl aber gemeinsam beplant wurden. Das führte zu „Wanderungen“, also z. B. zur Umwandlung eines pneumologischen in einen kardiologischen Sitz, auch wenn z. B. der Bedarf für Pneumologie nicht gedeckt, aber der für Kardiologie überdeckt war. Dagegen sollen nun Quoten für die jeweiligen Fachrichtungen schützen. Folgerungen in Zahlen hieraus sind vom G-BA, soweit ersichtlich, noch nicht veröffentlicht.
Die Umsetzung wird voraussichtlich bis gegen Ende 2019 brauchen, also erst im dritten Quartal neue Sitze zur Verfügung stehen. Sobald aber die Bedarfsplanungsrichtlinie veröffentlicht ist, lohnt sich die vertiefte Befassung, um zusätzliche Versorgungsmöglichkeiten vor Ort zu prognostizieren und sich für die dann anstehenden Neu-Vergaben zu rüsten.
Dr. Andreas Penner
Rechtsanwalt