SG München, Urteil vom 29.04.2025, S 56 KA 325/22 – Teleclinic
Verkehrt das Sozialgericht das Verbot der Zuweisung gegen Entgelt in sein Gegenteil?
Das Sozialgericht München hat in seinem Urteil vom 29.04.2025, S 56 KA 325/22, eine bemerkenswerte Auslegung des berufsrechtlichen Verbots der Zuweisung gegen Entgelt vorgenommen, die sowohl der bisherigen Rechtsprechung als auch dem Normverständnis widerspricht. Die Entscheidung verdient Aufmerksamkeit, da sie erhebliche Konsequenzen für die Gestaltung der Patientenakquisition hätte, die durch Nicht-Ärzte unterstützt wird.
Die Entscheidung des SG München: Tatbestandsverkehrung?
Das SG München sah in dem Vergütungsmodell der Beklagten Teleclinic einen Verstoß gegen § 31 Abs. 1 Berufsordnung für die Ärzte Bayerns (BayBO).
Nach der Vorschrift des § 31 Abs. 1 BayBO ist es dem Arzt nicht gestattet, für die Zuweisung von Patienten ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren.
Das Vergütungsmodell sieht nach den Urteilsgründen vor, dass eine Vergütung nur für tatsächlich durchgeführte Videosprechstunden geschuldet wird, welche nach einem Prozentsatz des von den Ärzten erzielten Honorars kalkuliert wird. Das Modell hat also eine erfolgsbezogene Komponente.
Das SG hat in diesem Modell einen Verstoß gegen das Verbot der Zuweisung gegen Entgelt gesehen. Das Gericht begründete seine Annahme damit, dass die Teleclinic den Ärzten Patienten zuweise, indem sie über ihren Kontakt zwischen gesetzlich Versicherten und Vertragsärzten herstelle. Aufgrund Erfolgs- und Umsatzbezug entstehe ein enger kausaler Zusammenhang zwischen Kontaktvermittlung und Entgeltanspruch.
Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung
Bemerkenswert ist der Kontrast zu anderen Gerichtsentscheidungen. Bereits das Urteil des BGH vom 01.12.2010, I ZR 55/08, – Zweitmeinung -, deutet in eine andere Richtung. Das Urteil hatte ein Portal zum Gegenstand, über das Patienten Heil- und Kostenpläne einer Überprüfung unterziehen konnten. Zugleich konnten alternative Angebote durch Zahnärzte abgegeben werden. Kam es nachfolgend zu einem Behandlungsvertrag, schuldete der Zahnarzt eine Provision. Der BGH sah drin kein unzulässiges Versprechen eines Entgelts für die Zuweisung von Patienten, sondern ein Entgelt für die „Nutzung des virtuellen Marktplatzes“.
Das SG München sah diese Überlegung nicht als übertragbar an. Es verwies darauf, dass auch der Patient eine Gebühr entrichtete und die Plattform nicht notwendigerweise zu einem Arztwechsel führte. Das sei nur bei einem Drittel der Fälle so gewesen.
In diesen beiden Elementen mögen zwar Unterschiede zwischen den Sachverhalten liegen, allerdings ist auch beim Teleclinic-Modell nicht ausgemacht, dass der Patient tatsächlich seinen Arzt wechselt. Zudem hat das Sozialgericht, soweit ersichtlich, keine Feststellungen zu einer etwaigen Wechselquote getroffen. Ob sich hier die Sachverhalte tatsächlich unterscheiden, ist also offen. Auch ist nicht ersichtlich, dass diese Unterschiede, bestünden sie, rechterheblich wären. Art. 31 BO Ärzte Bayern ist erfolgsunabhängig formuliert. Das SG knüpft damit zur Behauptung von Unterschieden an Merkmale an, auf die es der Vorschrift nach nicht ankommen soll. Auch nicht dargelegt wird, worin die Zuweisung liegen soll. Soweit ersichtlich, wird von der Plattform — abgesehen von typischen Informationen zu Qualifikationen, Schwerpunkte etc. wie sie auch in jeder KV-Arztsuche zu finden sind keine Steuerung zu einem spezifischen Arzt vorgenommen.
Zudem hat der BGH in dem ebenfalls vom Sozialgericht München angesprochenen Urteil vom 13. 1. 2011, I ZR 111/08, Hörgeräteversorgung II, in seinem Leitsatz ausgeführt:
… entscheidend ist allein, dass der Arzt für die Patientenzuführung an einen anderen Leistungserbringer einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt.
Mit dieser Voraussetzung, dass ein Arzt die Patientenzuführung an einen anderen Leistungserbringer vornehmen muss, setzt sich das Sozialgericht nicht auseinander. Es ist auch nicht ersichtlich, worin die berufsrechtlich sanktionierte „Tathandlung“ liegen soll. Teleclinic ist kein „Arzt“ und die beteiligten Ärzte führen nicht anderen Leistungserbringern Patienten zu, sondern sie wollen die Patienten für sich gewinnen.
Noch deutlicher wird der Gegensatz in einem Beschluss des Berufsgerichts für Heilberufe beim VG Köln vom 16.08.2023, 37 K 5786/22.T. Dort ging es um die Nutzung einer digitalen Plattform zur Vermittlung von Ärzten, welche die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit per Videosprechstunde ermöglichten. Auch dort schuldete der Arzt eine Gebühr an den Anbieter. Das VG führte hier aus:
Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen § 31 Abs. 1 BO vor. Danach ist es Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet, für die Zuweisung von Patientinnen und Patienten ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren. In der hier vorliegenden Konstellation fehlt es bereits am Tatbestandsmerkmal der „Zuweisung“. Eine Zuweisung liegt in jeder Einwirkung auf den Patienten mit der Absicht, dessen Wahl unter den Ärzten oder anderen Leistungserbringern zu beeinflussen; erfasst wird demnach jede erfolgreiche Patientenzuführung, ob durch Zuweisung oder Überweisung, Verweisung oder Empfehlung.
Vgl. Scholz, in: Spickhoff, Medizinrecht, 4. Aufl. 2022, MBO-Ä, 1997 § 31, Rn. 4.
Die Einwirkung auf den Patienten bzw. die Patientin muss aber vom Arzt bzw. der Ärztin ausgehen. Den Ärztinnen bzw. Ärzten ist die Einwirkung auf die Patientinnen und Patienten mit dem Ziel, sich oder einem Dritten durch die Zuweisung einen Vorteil zu verschaffen, untersagt.
Vgl. hierzu auch Landesberufsgericht für Heilberufe Münster, Urteil vom 6. Juli 2011 – 6t A 1816/09.T –, juris, Rn. 69.
Dies ist hier aber nicht der Fall. Auf die Nutzerinnen und Nutzer der Webseiten www.—.de wird nicht mit der Absicht eingewirkt, deren Wahl unter den Ärzten zu beeinflussen. Dem Beschuldigten ist insoweit Recht zu geben, als dass die Nutzerinnen und Nutzer im Rahmen des „Bestellvorgangs“ eine freie Arztwahl haben; eine wie auch immer geartete Beeinflussung ist dem maßgeblichen Sachverhalt nicht zu entnehmen. Das Gericht folgt ferner der vom Beschuldigten vertretenen Rechtsauffassung, wonach dessen Zahlung an die die Webseiten betreibenden Unternehmen in Höhe von — Euro für jeden gesetzlich krankenversicherten Neupatienten der Sache nach ein Entgelt für die Nutzung Plattform ist.
Damit lehnte das VG Köln einen Verstoß gegen § 31 Abs. 1 BO zutreffend ab. Es stellte fest, dass bereits das Tatbestandsmerkmal der „Zuweisung“ fehlt. Eine Zuweisung liegt in jeder Einwirkung auf den Patienten mit der Absicht, dessen Wahl unter den Ärzten zu beeinflussen. Die Einwirkung muss also, wie bereist vom BGH hervorgehoben, vom Arzt ausgehen.
Das überzeugt, da es Wortlaut und Telos würdigt. Der Tatbestand soll ausschließen, dass ein Arzt das besondere Vertrauen eines Patienten in seine fachliche Empfehlung dritter medizinscher Leistungserbringer missbraucht, wie das Landesberufsgericht an der vom VG zitierten Stelle der allgemeinen Meinung entsprechend ausführt. Ein solches besonderes Vertrauen des Patienten in den Anbieter einer digitalen Plattform liegt nicht vor, soweit der Betreiber nicht den Eindruck erweckt, er würde kraft eigener, ärztlich unterstützter Kompetenz auf der Basis einer medizinischen Beurteilung des Beschwerdebildes beim Patienten eine neutrale Empfehlung für die Entscheidung zugunsten eines medizinischen Dienstleisters aussprechen. Das ist hier indes erwiesen nicht der Fall.
Demgegenüber wirkt das Urteil des SG München wie eine doppelte Tatbestandsverkehrung:
- Verkehrung der Zuweisungsrichtung:
- Klassischer Tatbestand: Arzt mit besonderem Vertrauen weist Patienten an anderen Leistungserbringer zu.
- SG München: Nicht-Arzt ohne besonderes Vertrauen „weist“ Patienten zu.
- Verkehrung der Zahlungsrichtung:
- Klassischer Tatbestand: Arzt erhält Geld für Zuweisung an einen Dritten, der auch Nicht-Arzt sein kann.
- SG München: Arzt zahlt Geld für erhaltene „Zuweisung“ von einem Nicht-Arzt.
Diese doppelte Verkehrung des Tatbestandes wird in den Urteilsgründen nicht reflektiert oder begründet. Das Gericht behandelt den Fall, als läge der klassische Tatbestand vor, obwohl sowohl die Funktionen der Beteiligten als auch die Geldflüsse entgegengesetzt ausgestaltet sind. Nachvollziehbar ist es nicht. Überzeugend ist es auch nicht. Das gilt auch, wenn man dem Geschäftsmodell kritisch gegenüber eingestellt wäre, wie es z. B. das LG Kiel im Urteil vom 28.10.2011, 8 O 28/11, Patientenvermittlung, – unter gleicher Missachtung des Telos des Zuweisungsverbotes – zum Ausdruck brachte:
Ein Wettbewerb zwischen ärztlichen Leistungserbringern durch die Zahlung von Provisionen an Dritte für die Vermittlung von Patienten ist gesellschaftlich nicht erwünscht.
Die Rechtsfigur der verbotenen Zuweisung gegen Entgelt ist hier der falsche Anknüpfungspunkt. Der Rekurs bewirkt im Gegenteil eher den Eindruck, dass der Wille zum Ergebnis den Blick auf Wortlaut und Telos von Normen verstellt, insbesondere wenn – wie hier – gegenläufige Rechtsprechung vorliegt, die nicht in die Erwägungen eingestellt wird. Es wäre zudem zu berücksichtigen gewesen, dass t in dem Teleclinic-Modell eine Ausweitung von Auswahloptionen für den Patienten liegt, dem zusätzliche Optionen für qualifizierten ärztlichen Rat geboten werden. Der damit verbundene verstärkte Wettbewerb um die Patienten kann ebenfalls kein Anknüpfungspunkt sein, soweit keine wettbewerbsrelevante Verzerrung stattfindet.
Weitreichende praktische Konsequenzen
Folgt man der Argumentation des SG München, hätte das weitreichende Konsequenzen. Jeder erfolgsbezogene wirtschaftliche Vorteil, den ein Nicht-Arzt von einem Arzt für Unterstützungsleistungen bei der Patientenakquisition erhält, könnte einen Berufsrechtsverstoß darstellen. Die Konsequenzen wären:
- Prüfungsbedarf für alle Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Dienstleistern mit erfolgsabhängigen Komponenten.
- Etwaige Nichtigkeit der Vereinbarungen nach § 134 BGB, jedenfalls § 138 BGB, was sich insbesondere bei Leistungsstörungen auswirken kann.
- Etwaige strafrechtliche Sanktionen für beide Seiten, wenn man die doppelte Tatbestandsverkehrung auch im Rahmen der §§ 299a und 299b StGB als gültig ansähe. Das erscheint allerdings noch fernliegender. Dier hier relevante Passiv-Fall, in dem sich eine Person Patienten gegen Entgelt zuführen lässt, ist im Wortlaut des § 299b StGB auf Zuführung durch Angehörige eines Heilberufs im Sinne des § 299a StGB beschränkt. Diese Funktion nimmt ein Nicht-Arzt, der eine Vergütung von einem Arzt für die Unterstützung der Patientenakquisition erhält, nicht ein.
Bewertung und Ausblick
Das SG München hat einen Verstoß gegen das Verbot der Zuweisung gegen Entgelt angenommen. Die Annahme erweist sich als unzutreffend und widerspricht anderen Urteilen. Das Urteil wirkt in diesem Punkt auch bei näherer Beleuchtung so wenig überzeugend, wie die Konsequenzen weitreichend wären. Da man indes nicht ausschließen kann, dass die rechtspolitisch kritische Haltung gegenüber dem Geschäftsmodell die Auslegung beeinflusst, bedarf die weitere Entwicklung der Beobachtung. Auch ist für eigene Gestaltungen zu erwägen, dass Modifikationen vorgenommen werden, bis sich zeigt, ob die bisherige Rechtsprechung ihre Gültigkeit behält.
Dr. Ute Pittrof Dr. Felix Reimer, LL.M. Prof. Dr. Andreas Penner
Fachanwältin für Medizinrecht Fachanwalt für Medizinrecht
Fachanwältin für Handels- und
Gesellschaftsrecht